Lyrik ~ Klinge
    Versuch einer Dichtung            

28 
 September 
 
2009


 

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Schachzabel (1337)
– das Schachspiel

Schach als bedeutungs(über-)beladenes, polysemantisches Spiel lässt mich nicht los!

In Anlehnung “Gottesdienst einmal anders: Multisensorischer Ritus tanzender Schachfiguren im Einklang mit den kosmischen Ordnungsprinzipien. Gesangbuch folgt.” möchte ich weiter gedanklich die Liturgie meiner angedachten Zeremonie grob umreißen, holzschnittartig skizzieren.

Vor gut einem Monat wurde ich auf das Schachzabelbuch des Konrad von Ammenhausen aufmerksam und durfte auf chesshistory.com bezüglich dessen Inhaltes fündig werden (download).

Ich kann es mir nicht verwehren, nebst obiger Download-Adresse den amüsanten und durchaus tiefsinnigen Text hier nochmals aufzuzeigen:

Das Schachzabelbuch des Konrad von Ammenhausen (1337)
 
Die europäische Schachliteratur begann sich im 13. Jahrhundert zu entfalten. Das mittelalterliche Interesse galt einerseits Problemsammlungen arabischen Vorbilds und andrerseits sogenannten
«Moralschriften». Diese Dichtungen zogen das Schachspiel als Abbild der Gesellschaft heran und führten anhand der einzelnen Figuren die Rechte und Pflichten der einzelnen Stände aus. Der schachliche Gehalt beschränkte sich meist auf ein Minimum, doch ausgeschmückt mit zahlreichen Allegorien und Anekdoten gewannen diese Darstellungen einen breiten Leserkreis.
 
Das beliebteste dieser „Schachzabelbücher“ („Schachbrettbücher“) war das lateinische Liber demoribus hominum et de officiis nobilium ac popularium super ludo scaccorum des Dominikanermönchs Jakob von Cessoles. Offenbar kurz vor 1300 aus einer Reihe von Predigten hervorgegangen, widerfuhr diesem Traktat innert kurzer Zeit ungewöhnlich grosser Zuspruch, der sich in unzähligen Abschriften (und später Drucken) sowie Übersetzungen ins Französische, Italienische, Katalanische, Spanische, Englische, Deutsche, Holländische, Schwedische und Tschechische manifestierte. Nur die Bibel soll in jener Zeit noch weiter verbreitet gewesen sein.
 
Allein in deutscher Sprache liegen fünf unabhängige Bearbeitungen vor. Die mit Abstand umfangreichste und bekannteste ist die mittelhochdeutsche Versdichtung des Mönchs und Leutpriesters zu Stein am Rhein, Konrad von Ammenhausen. Fast nichts ist über diesen Bauernsohn aus dem thurgauischen Weiler Ammenhausen bekannt. Er lebte von etwa 1280/90 bis Mitte des 14. Jahrhunderts, wurde wahrscheinlich in einer Klosterschule erzogen und hatte auf Reisen Frankreich die Provence und Graubünden kennengelernt.
 
Konrads Belesenheit, seine genauen Kenntnisse des Alltags und seine Beobachtungsgabe spiegeln sich in vielen Stellen seines Schachzabelbuches. Im grossen und ganzen hielt sich Konrad (auch «Cuonrat» oder «Kunrat» geschrieben) zwar an die lateinische Vorlage, doch ergänzte er diese mit unzähligen eigenen Geschichten, Belehrungen und Erfahrungen, so dass er nach mühevoller Arbeit nicht weniger als 19336 Verszeilen aufs Blatt gebracht hatte (die Verszahlen stammen von Vetter, sind aber möglicherweise nicht völlig akkurat).
 
Den Stoff des Cessoles hatte er damit mehr als verdoppelt.

Wie die Vorlage zerfällt auch Konrads Buch zwischen Vorrede und Epilog in vier Teile:

Der erste Teil berichtet in 1160 Versen von der sagenhaften Erfindung des Schachspiels, dem angeblichen Erfinder und dem Sinn des Spiels. Dieser besteht in der Belehrung der Könige, der Bekämpfung des Müssiggangs und der Befriedigung der menschlichen Sucht nach Neuem.

Im zweiten Teil werden in 7748 Versen die «edlen» Schachfiguren als Symbole der gehobenen Stände und ihrer besonderen Tugenden und Untugenden beschrieben. Vom König erwartet Konrad Milde und Barmherzigkeit, Wahrhaftigkeit, Strenge gegen böse Ratgeber, Gerechtigkeit und Enthaltsamkeit.
Die Königin soll sich durch Weisheit, Keuschheit, Zucht und Scham sowie edle Geburt auszeichnen.
Bei den Richtern (Läufern) doziert Konrad ausschweifend über verschiedene Aspekte von Gerechtigkeit, Unabhängigkeit und eifrigem Studium.
Gute Ritter (Springer) zeichnen sich durch Weisheit, Treue, edle Gesinnung, Tapferkeit, Barmherzigkeit, Volksfreundlichkeit und Gesetzeseifer aus, während sich die Landvögte (Türme) durch Gerechtigkeit, Milde, Demut, Geduld, Genügsamkeit und edle Gesinnung hervorzuheben haben.
In all diesen Beschreibungen kommen klassische Sagen und Erzählungen in grosser Vielfalt zum Zuge.

Der dritte Teil von 8380 Versen ist den «gemeinen» Schachfiguren («Venden», d.h. Bauern) gewidmet. Für heutige Leser eher ungewohnt, erhält jeder einzelne Bauer eine eigene Identität.
Die acht Kapitel handeln der Reihe nach vom Landmann (h-Bauer), vom Schmied, Maurer und Zimmermann (g-Bauer), vom Weber, Schreiber und weiteren Kleinhandwerkern (f-Bauer), vom Kaufmann und Geldwechsler (e-Bauer), vom Arzt und Apotheker (d-Bauer), vom Schenk- und Gastwirt (c-Bauer), vom Beamten und Verwalter (b-Bauer) und schließlich vom Verschwender, Spieler und Boten (a-Bauer).
Jeden dieser Berufe nimmt der Prediger Konrad zum Anlass eingehender Betrachtungen und wiederholter Ermahnungen.

Erst im vierten Teil kommt der Dichter in 862 Versen auf das eigentliche Schachspiel zu sprechen. Er beschreibt das Brett und die Gangart der Figuren. Zum Schluss werden die Erfindungsgeschichte des Schachspiels und das ganze Werk noch einmal rekapituliert.
Insgesamt fällt dieser Teil recht knapp aus; das eigentliche Schachspiel interessierte den thurgauischen Mönch deutlich weniger als die vielen allegorischen Deutungsmöglichkeiten.

Figuren als Repräsentanten von Ideen, Handlungsorientierung und göttlichen Ordnungsprinzipien. Ein durchaus erhabener Gedankenansatz!

Zurück zu meinem Gedächtnissystem.
Mein Anspruch sollte daher kein geringerer sein, das Weltwissen sensorisch (hier durch Schachfiguren personifiziert) auf einer erweiterten Matrix von 8×8 auf 10×10 (in Anlehnung an die Dezimalklassifiktion (siehe auch Blog-Beitrag) abzuBILDen, wobei der Begriff “Bild” nicht nur für den visuellen Kanal prädestiniert ist, sondern generell alle Wahrnehmungspforten mit einschließt (z.B. auch den akustischen mit seinen Lautbildern).

Hierbei verwiese ich auch auf die didaktische, analogienbildende Forderung von Aaron Nimzowitsch in seinem Schach-Standardwerk “Mein System”, durch […] komisch wirkende Parallelen zu Ereignissen des täglichen Lebens, Klarheit über komplizierte Schachvorgänge zu gewinnen […].

 
 
19 
 September 
 
2009

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Lutz Görner lädt uns zu einer literarischen Reise ein


 
Tausend Dank an Lutz Görner für die Einstellung auf YouTube!
Eventuelle Kommentare zum Video-Clip bitte direkt auf YouTube!


 

 


 

 
Rezitierte Gedichte

 
Auf den Mund (0:09)
Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau (1616 – 1679)

Mund! der die Seelen kann durch Lust zusammen hetzen.
Mund! der viel süsser ist als starker Himmelswein.
Mund! der du Alikant des Lebens schenkest ein.
Mund! den ich vorziehn muss der Inden reichen Schätzen.
Mund! dessen Balsam uns kann stärken und verletzen.
Mund! der vergnügter blüht als aller Rosen Schein.
Mund! welchem kein Rubin kann gleich und ähnlich sein.
Mund! den die Gratien mit ihren Quellen netzen;
Mund! ach Korallenmund mein einziges Ergötzen!
Mund! laß mich einen Kuß auf deinen Purpur setzen.

 

 
Die Wollust (2:12)
Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau (1616 – 1679)

Die Wollust bleibet doch der Zucker dieser Zeit,
was kann uns mehr denn sie den Lebenslauf versüßen?
Sie lässet trinkbar Gold in unsre Kehle fließen
und öffnet uns den Schatz beperlter Liebligkeit.
In lauter Rosen kann sie Schnee und Eis verkehren
und durch das ganze Jahr die Frühlingszeit gewähren.

Es schaut uns die Natur als rechte Kinder an,
sie schenkt uns ungespart den Reichtum ihrer Brüste.
Sie öffnet einen Saal voll zimmetreicher Lüste,
wo aus des Menschen Wunsch Erfüllung quellen kann.
Sie legt als Mutter uns die Wollust in die Armen
und lässt durch Lieb und Wein den kalten Geist erwarmen.

Nur das Gesetze wil allzu tyrannisch sein,
es zeiget jederzeit ein widriges Gesichte.
Es macht des Menschen Lust und Freiheit ganz zunichte
und flöst vor süßen Most uns Wermuthtropfen ein.
Es untersteht sich uns die Augen zu verbinden
und alle Liebligkeit aus unser Hand zu winden.

Die Ros’ entblösset nicht vergebens ihre Pracht,
jeßmin wil nicht umsonst uns in die Augen lachen.
Sie wollen unser Lust sich dienst- und zinsbar machen.
Der ist sein eigen Feind, der sich zu Plagen tracht.
Wer vor die Schwanenbrust ihm Dornen will erwählen,
dem muß es an Verstand und reinen Sinnen fehlen.

Was nutzet endlich uns doch Jugend, Kraft und Mut,
wenn man den Kern der Welt nicht reichlich will genüssen
Und dessen Zuckerstrom lässt unbeschifft verschießen.
Die Wollust bleibet doch der Menschen höchstes Gut
Wer hier zu Segel geht, dem wehet das Gelücke
und ist verschwenderisch mit seinem Liebesblicke.

Wer Epikuren [Epicuren] nicht vor seinen Lehrer hält,
der hat den Weltgeschmack und allen Witz verloren.
Es hat ihr die Natur als Stiefsohn ihn erkoren.
Er muß ein Unmensch sein und Scheusal dieser Welt,
der meisten Lehrer Wahn erregte Zwang und Schmerzen.
Was Epikur gelehrt, das kitzelt noch die Herzen.

 

 
Grabschrift eines Lasterhaften (5:15)
Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau (1616 – 1679)

Die Leber ist zu Wien! Das Glied zu Rom geblieben!
Das Herz in einer Schlacht! und das Gehirn an Lieben!
Doch dass der Leib nicht ganz verloren möchte sein
so legte man den Rest hier unter diesen Stein.

 

 
Grabschrift eines Schlafsüchtigen (5:44)
Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau (1616 – 1679)

Hier liegt ein fauler Leib, der aus dem Tage Nacht
und aus dem Leben Tod durch Schlafen hat gemacht.
Aus allzu großer Furcht, dass man ihn noch erwecket
so hat er sich hierher in dieser Gruft verstecket.

 

 
Grabschrift einer lustigen Jungfrau (6:12)
Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau (1616 – 1679)

Die euch für Schmuck und Gold entblößte Leib und Brust
machte der grimme Tod nun zu der Würmer Kost.
Ihr Buhler, lasset hier eure Tränenströme fließen,
So kann noch mancher Wurm zur Speis auch Trank genießen.

 

 
Grabschrift eines Mohren (6:44)
Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau (1616 – 1679)

Kein Europäer soll die schlechte Grabschrifft lesen
und lachen, dass ich schwarz und nackend bin gewesen.
Ich trug das Mutterkleid, du trägst die Haut der Kuh,
du bist mehr Vieh als ich, ich war mehr Mensch als du.

 

 
Gedanken bei Antretung des fünfzigsten Jahres (Auszug) (7:27)
Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau (1616 – 1679)

Mein Auge hat den alten Glanz verloren.
Ich bin nicht mehr, was ich vor diesem war.
Es klinget mir fast stündlich in den Ohren:
vergiss der Welt und denk auf deine Bar.
Und ich empfinde nun aus meines Lebens Jahren
Das fünfzig schwächer sind als fünfundzwanzig waren.

Du hast, mein Gott, mich in des Vaters Lenden
als rohen Zeug genädig angeschaut
und nachmals auch in den verdeckten Wänden
ohn alles Licht durch Allmacht aufgebaut.
Du hast als Steuermann und Leitstern mich geführet,
wo man der Wellen Sturm und Berge Schrecken spüret.

Du hast den Dorn in Rosen mir verkehret
und Kieselstein zu Kristallin gebracht.
Dein Segen hat den Unwert mir verzehret
und Schlackenwerk zu gleichem Erz gemacht.
Du hast als Nulle mich den Zahlen zu gesellet
der Welt Gepränge gilt nach dem es Gott gefället.

Ich bin zuschlecht vor dieses Dank zusagen
Es ist zu schlecht was ich dir bringen kann.
Nimm diesen doch, den du hast jung getragen
als Adlern jetzt auch in dem Alter an.
Ach, stütze Leib und Geist und lass bei grauen Haaren
nicht grüne Sündenlust sich meinem Herzen paaren.

Lass mich mein Amt mit Freudigkeit verwalten,
lass Trauersucht nicht stören meine Ruh.
Lass meinen Leib nicht wie das Eis erkalten
und lege mir noch etwas Kräfte zu.
Hilf, dass mich Siechtum nicht zu Last und Ekel mache,
der Morgen mich bewein, der Abend mich verlache.

Lass mich die Lust des Feindes nicht berücken
Die Wermut oft mit Zucker überlegt.
Verwirr ihn selbst im Garne seiner Tücken,
dass der Betrug nach seinem Meister schlägt.
Lass mich bei guter Sach ohn alles Schrecken stehen
Und unverdienten Hass zu meiner Lust vergehen.

Verjüng in mir des schwachen Geistes Gaben
Der ohne dich ohn alle Regung liegt.
Lass mit der Zeit mich diesen Nachklang haben:
Das Eigennutz mich niemals eingewiegt.
Dass mir des Nächsten Gut hat keinen Neid erwecket.
Sein Ach mich nicht erreicht, sein Weinen nicht beflecket.

Hilf, dass mein Geist zum Himmel sich geselle
und ohne Seid und Schminke heilig sei.
Bist du doch, Herr, der gute reine Quelle;
So mache mich von bösen Flecken frei.
Wie leichtlich lässt sich doch des Menschen Auge blenden!
Du weisst wie schwach es ist, es kommt aus deinen Händen.

Denn führe mich zu der erwählten Menge
und in das Licht durch eine kurze Nacht:
Ich suche nicht ein großes Leichgepränge
aus Eitelkeit und stolzer Pracht erdacht.
Ich will kein ander Wort um meinen Leichstein haben
Als dies: Der Kern ist weg, die Schalen sind vergraben.

 
 
19 
 September 
 

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