Lyrik ~ Klinge
    Versuch einer Dichtung            

18 
 April 
 
2022

abgelegt in
Eich, Günter

 

DICHTUNG Günter Eich
LESUNG Günter Eich


 

Ende eines Sommers

Wer möchte leben ohne den Trost der Bäume!

Wie gut, daß sie am Sterben teilhaben!
Die Pfirsiche sind geerntet, die Pflaumen färben sich,
während unter dem Brückenbogen die Zeit rauscht.

Dem Vogelzug vertraue ich meine Verzweiflung an.
Er mißt seinen Teil von Ewigkeit gelassen ab.
Seine Strecken
werden sichtbar im Blattwerk als dunkler Zwang,
die Bewegung der Flügel färbt die Früchte.

Es heißt Geduld haben.
Bald wird die Vogelschrift entsiegelt,
unter der Zunge ist der Pfennig zu schmecken.

 
 
9 
 Oktober 
 
2021


 
Gedankenflaute

Harre, matter Geist,
der frohen Tage.

Des Gedanken eherner Flügel,
er schlägt zu seiner Zeit,
und schwinget dich zu hohen Fluges Ziel.
→ zu Mnemosynes Geleit
Hephaistos’ Kunstschmiede
 
 
11 
 Oktober 
 
2020


 

DICHTUNG Charles Baudelaire
LESUNG Christian Redl
BEREITSTELLUNG Lyrik für Puristen



Oft fangen die Matrosen, um sich zu vergnügen,
Den mächtigen Meeresvogel ein, den Albatros;
Den Schiffen, die den bittern Abgrund überfliegen,
Folgt er in gleichgemut der Fahrt geselltem Troß.

Kaum aber ist er hingezwungen auf die Planken,
Läßt dieser König des Azur in seiner Scham
Die großen weißen Flügel kläglich an den Flanken
Wie Ruder niederhängen, ungeschickt und lahm.

Wie linkisch er sich hinschleppt in der Flügel Steife!
Er, sonst so schön, wie ist er häßlich in der Schmach!
Den Schnabel neckt ihm einer mit der Stummelpfeife,
Ein andrer, hinkend, äfft den Flug des Krüppels nach!

Des Dichters Ebenbild ist dieser Fürst der Wolke,
Im Sturm ist er behaust, verlacht des Schützen Strang,
Verbannt zur Erde aber und umhöhnt vom Volke,
Hindern die riesenhaften Flügel seinen Gang.