Lyrik ~ Klinge
    Versuch einer Dichtung            

27 
 August 
 
2011

abgelegt in
Gedankenschau

 

Die Erzählung ist nicht ganz unbekannt.
Ein schiffbrüchiger Mann mit nur noch einem Auge strandet an einer fernhin entlegenen Insel, die von Blinden besiedelt wird.
Diese Blindheit ist kein erworbener Defekt, sondern besteht seit ihrer Geburt, ist typisch für diese Art von Menschen. Diese Menschen kennen demzufolge keine Farben, ist das Grün des Grases fremd, die Himmelsbläue blieb zeitlebens ungesehen, die flammende Abendröte hieß nimmer sie schwärmen.
Doch die Blinden trauern nicht der bunten Farbenwelt nach.
Wieso auch? Was man nicht kennt, kann man auch nicht vermissen.

Und das gesellschaftliche Leben auf der Insel funktioniert auch ohne Farben.
Die Lebensbereiche sind gut auf die sensorischen Fähigkeiten der Bevölkerung abgestimmt und der Alltag gestaltet sich als völlig normal.
Nur dass eben der visuelle Wahrnehmungskanal nichtexistent ist.
Aber das tut der Lebensqualität keinen Abbruch, stellt auch keine existentielle Bedrohung dar.
Man hat sich damit arrangiert.

Die Frage ist nun, ob des Einäugigen Sehkraft in diesem gesellschaftlich abgesteckten Kontext eine Gabe ist oder eine Behinderung darstellt?
Wird der Einäugige zum König, zum Herdenführer gewählt aufgrund seiner “umsichtigen Gabe” oder wird er wegen seiner Andersartigkeit als Aussätziger verstoßen oder gar als halluzinierender Psychopath in eine Nervenheilanstalt eingeliefert?

Wie soll sich der Einäugige verhalten?
Soll er aufbegehren, Wahrheit verlauten?
Oder soll er sich diplomatisch den Gegebenheiten anpassen, unauffällig sein Tagwerk verrichten und tagtäglich sich selbst verleugnen, seinem Wesen, seinem angestammten Recht auf Individualität untreu sein?

höhlengleichnis_hoehlengleichnis_platon

Quelle: Radio Sai Hörer Journal

In Anlehnung an das Höhlengleichnis von Platon wollen die Blinden dem Einäugigen vielleicht keinen Glauben schenken.
Sie haben sich an die diffusen Schattenspiele in der dunklen Höhle ihrer Wahrnehmung gewöhnt, fühlen sich wohl in ihrer traulich eingerichteten Gedankenwelt und empfinden das farben- und konturengebärende Sonnenlicht als Irritation, als erschütterndes Irregulativ ihres marmorn gesockelten (und vielleicht auch stilisierten) Weltbildes.

Ihre Welt braucht keine geistigen Grenzerweiterungen.
Ihre Welt braucht keine Konturen.
Ihre Welt braucht keine Farben.

 
 
26 
 August 
 
2011

abgelegt in
Gedankenschau

 

Sei es Veganismus, Christentum oder andere Lebenskonzepte: Ich halte nicht viel vom missionarischen Übereifer, vom überschäumenden (blinden) Aktionismus.

Ein Volksweisheit besagt:
Rede nur, wenn man dich fragt, aber lebe so, dass man dich fragt!

Damit ist eigentlich alles gesagt.
Handlungs(an)weisungen (Maximen) jeglicher Art, ethisch oder religiös motiviert, müssen vorgelebt werden.
Ursprünglich geistig formulierte (zuweilen utopische) Verhaltensregeln müssen sich auf dem Prüfstand der fass- und sichtbaren Wirklichkeit bewähren, müssen realisierbar/umsetzbar sein, müssen operationalisiert werden, müssen sich als durchführbar erzeigen.
Ansonsten bleiben sie reine Gedankenexperimente und bleiben -um mit dem Höhlengleichnis von Sokrates zu sprechen- im Reich der (schönen) Ideen: “Deine Worte hör’ ich wohl, doch deine Taten sprechen lauter.”
Es gilt, den (vor-)gelebten Beweis der Machbarkeit zu erbringen.

Ich persönlich habe den traditionsgeprägten Begriff “Mission” individuell neu definiert, was vielleicht nicht ganz konform mit der Bibel geht, in der Jesus den Missionsbefehl erteilt: “Gehet hin in alle Welt und machet zu Jüngern alle Völker […]”. Paulus hat sich dies auf die Fahne geschrieben.

Ich denke aber, dass “Gehen” in alle “Welt“, durchaus auch mit “hineintragen” in alle “Winkel der Herzen” übersetzt werden kann.
Dass es primär darum geht, die Menschen zu erreichen, nicht unmittelbar durch Distanzüberwindung mit Thesen-Verlautung (“Gehet an die Hecken und Zäune und predigt!”), sondern durch eine Art Heranführung an ein Ideal durch praktische, anschauliche Lebensführung:

Rede nur, wenn man dich fragt, aber lebe so, dass man dich fragt!

Der Berg soll zum Propheten kommen und nicht umgekehrt.

 
 
23 
 August 
 
2011

abgelegt in
Gedankenschau

 

Das alte Schloss

Auf der Burg haus’ ich am Berge,
Unter mir der blaue See,
Höre nächtlich Koboldzwerge,
Täglich Adler aus der Höh’;
Und die grauen Ahnenbilder
Sind mir Stubenkameraden,

Wappentruh’ und Eisenschilder
Sofa mir und Kleiderladen.
 
Annette von Droste-Hülshoff

Man sollte nie die dialogische Funktion von Sprache verkennen.
Zuweilen denke ich, in der Eigenresonanz eines Ikea® -Schrankes durch murmelnde Monologe während einer allmorgentlichen Kleiderauswahl wohnt mehr “emotionales Mitschwingen” inne als in manch zwischenmenschlicher Konversation stummen Ausharrens.

Lebst du noch oder ruhst du schon?