Lyrik ~ Klinge
    Versuch einer Dichtung            

25 
 Dezember 
 
2010


 

Thomas der Zwilling

Seine Jünger sprachen zu ihm:
“Das Königreich, an welchem Tage wird es kommen?”
“Nicht im Erwarten wird es kommen.
Sie werden nicht sagen: Siehe, hier! oder: siehe dort!
 
Vielmehr ist das Königreich des Vaters ausgebreitet über die Erde, und die Menschen sehen es nicht.”
 
Einst gebarest, ewiger Tröster Du, in der Weltnacht
Dunkel den Himmelstern. Wundernder Aufschau dem Volk, den Gelehrten
Herold deiner Niederkunft. So verkündete damals
am Firmament ein Gestirn dein irdisch Erscheinen, des Geistes
Fleischwerdung, und erfüllte der Alten still flammende Hoffnung,
die aus Jesajas prophetischem Wort seit jeher sich nährte.

So erhob sich im Kreis seiner Jünger der Menschensohn und sprach:
„Wahrlich, ich sage euch, kein weit’res Mal stellt das Königreich Gottes
sich einem menschlichen Aug‘ durch Himmelsgebaren euch dar und
nimmer gewahrt eines Deuters forschender Blick die erneute
Stätte göttlicher Wiederkunft. Gebt drum Obacht vor der Weisen
Lehre und schmäht ihrer Weissagung Kunst. Denn das Reich aller Himmel
thront nicht in Wolkenpalästen, umsonst irret suchend der Blick im
Sternengewirr des unendlichen Raums. Denn Gottes Regentschaft
ist nunmehr ausgebreitet über der Erde Grund Weite,
ist bereits ausgegossen in der Völker Schar Herzen.
Jedem wohnet das Göttliche inne, ist irdische Heimstatt
heiligen Geists, des ewigen Baumeisters Tempelstadt, gotter-
wähltes Heiligtum, Stätte des täglichen Opfers im Werk, der
Hingabe und Offenbarung göttlichen Wirkens zugleich.”

→ zu Mnemosynes Geleit
Evangelium nach Thomas
 
 
19 
 Juni 
 
2010


 

Thomas der Zwilling

Jesus sprach:
“Selig der Mensch, der gelitten hat, er hat das Leben gefunden.”
 
Aller Wonne zuteil dem göttlichen Dulder, der
ird’scher Bedrängnis standhielt, durchwallte der klaffenden Täler
Dämmergefilde, den steinebestreuten. Denn fester der Schritt, von
himmlischer Kraft nun geschnüret, wird der Gerechte durch Leides
Prüfung sich mattiger Anhöhe nahn und jubelbekränzt dann
eingehn zu glücklicher’m Lose nie empfundener Freude.
→ zu Mnemosynes Geleit
Evangelium nach Thomas
 
 
4 
 Juni 
 
2010


 

Thomas der Zwilling

Jesus sprach:
“Wenn ihr Geld habt, gebt es nicht gegen Zins.
Vielmehr gebt es dem, von dem ihr es nicht zurück erhalten werdet.”
Nicht jenes Kaufmannes nied’rer Gesinnung eifere nach, der
Geld nur entleiht, es einstreicht mit Zins, sein Vermögen zu mehren.

Wahre den Freimut im Herzen dir doch und leih’ dein Gehör dem
Dürftigen. Neige zu ihm dich herab und dien’ ihm mit tät’gem
Wort. Denn umsonst empfingest auch du von himmlisch gedeckter
Tafel Speise und Trank. So fordere gleichwohl vom Nächsten
nichts, ihm selbstlos ergeben, sodann göttliche Weisung befolgend.
→ zu Mnemosynes Geleit
Evangelium nach Thomas