30 Mai 2022 |
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DICHTUNG | Günter Eich | |
LESUNG | Günter Eich |
Himbeerranken
Der Wald hinter den Gedanken,
die Regentropfen an ihnen
und der Herbst, der sie vergilben läßt –
ach, Himbeerranken aussprechen,
dir Beeren ins Ohr flüstern,
die roten, die ins Moos fielen.
Dein Ohr versteht sie nicht,
mein Mund spricht sie nicht aus,
Worte halten ihren Verfall nicht auf.
Hand in Hand zwischen undenkbaren Gedanken.
Im Dickicht verliert sich die Spur.
Der Mond schlägt sein Auge auf,
gelb und für immer.
1 Mai 2022 |
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DICHTUNG | Günter Eich | |
LESUNG | Günter Eich |
Weg zum Bahnhof
Noch schweigt die Fabrik,
verödet im Mondschein.
Das Frösteln des Morgens
wollt ich gewohnt sein!
Rechts in der Jacke
die Kaffeeflasche,
die frierende Hand
in der Hosentasche,
so ging ich halb schlafend
zum Sechsuhrzug,
mich griffe kein Trauern,
ich wär’ mir genug.
Nun aber rührt der warme Hauch
aus den Bäckerein
mein Herz an wie eine Zärtlichkeit
und ich kann nicht gelassen sein.
24 April 2022 |
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DICHTUNG | Günter Eich | |
LESUNG | Günter Eich |
Aurora
Aurora, Morgenröte,
du lebst, oh Göttin, noch!
Der Schall der Weidenflöte
tönt aus dem Haldenloch.
Wenn sich das Herz entzündet,
belebt sich Klang und Schein,
Ruhr oder Wupper mündet
in die Ägäis ein.
Uns braust ins Ohr die Welle
vom ewgen Mittelmeer.
Wir selber sind die Stelle
von aller Wiederkehr.
In Kürbis und in Rüben
wächst Rom und Attika.
Gruß dir, du Gruß von drüben,
wo einst die Welt geschah.