Lyrik ~ Klinge
    Versuch einer Dichtung            

23 
 Dezember 
 
2017


 

DICHTUNG Theodor Storm
LESUNG Christian Rode
BEREITSTELLUNG wortlover



Weihnachtabend 1852

Die fremde Stadt durchschritt ich sorgenvoll,
Der Kinder denkend, die ich ließ zu Haus.
Weihnachten war’s; durch alle Gassen scholl
Der Kinderjubel und des Markts Gebraus.

Und wie der Menschenstrom mich fortgespült,
Drang mir ein heiser Stimmlein in das Ohr:
»Kauft, lieber Herr!« Ein magres Händchen hielt
Feilbietend mir ein ärmlich Spielzeug vor.

Ich schrak empor, und beim Laternenschein
Sah ich ein bleiches Kinderangesicht;
Wes Alters und Geschlechts es mochte sein,
Erkannt ich im Vorübertreiben nicht.

Nur von dem Treppenstein, darauf es saß,
Noch immer hört ich, mühsam, wie es schien:
»Kauft, lieber Herr!« den Ruf ohn Unterlaß;
Doch hat wohl keiner ihm Gehör verliehn.

Und ich? – War’s Ungeschick, war es die Scham,
Am Weg zu handeln mit dem Bettelkind?
Eh meine Hand zu meiner Börse kam,
Verscholl das Stimmlein hinter mir im Wind.

Doch als ich endlich war mit mir allein,
Erfaßte mich die Angst im Herzen so,
Als säß mein eigen Kind auf jenem Stein
Und schrie nach Brot, indessen ich entfloh.

 
 
19 
 November 
 
2017


 

Sonett II.

Wenn vierzig Winter einst dein Haupt umnachten
Und tief durchfurchen deiner Schönheit Feld,
Dann ist dein Jugendflor, wonach wir itzt so trachten,
Ein mürbes Kleid, das unbemerkt zerfällt.

Ein ödes Lob, ein allverzehrend Schmähn
Wär’s dann, dem Forscher nach den Reizen all,
Nach dem frühen Reichtum, zu gestehn
Er sei dahin mit deines Auges Fall.

Weit rühmlicher wies deine Schönheit sich,
Könnt’st du erwidern „dies mein schönes Kind
Tilgt meine Schuld, vertritt mein Alter mich,
Weil seine Reize Erben meiner sind“. –

Dies ist’s, wodurch ein Greis sich neu verjüngt
Und kaltem Blut die Wärme wiederbringt.

 
 
5 
 November 
 
2016


 
  • Wir haben keine zu geringe Zeitspanne, sondern wir vergeuden viel davon.
    Lang genug ist das Leben bemessen, auch für die allergrößten Unternehmungen, wenn es nur insgesamt gut angelegt würde.
    Doch sobald es in Verschwendung und Oberflächlichkeit zerrinnt, sobald es für keinen guten Zwecke verschwendet wird.
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  • Wir haben kein kurzes Leben empfangen, sondern es kurz gemacht.
    Keinen Mangel an Lebenszeit haben wir, sondern gehen verschwenderisch damit um.
    Es ist wie mit reichen und königlichen Schätzen. Sobald sie an einen schlechten Herrn kommen, sind sie im Nu vergeudet, während ein auch noch so bescheidenes Vermögen, wenn es einem tüchtigen Verwalter anvertraut ist, durch Nutzung wächst.
    So bietet unsere Lebenszeit dem, der sie gut einteilt, genug Raum.
  •  

  • Doch wer bürgt dir dafür, dass du so lange lebst?
    Wer wird es gestatten, dass alles so verläuft, wie du es dir einteilst?
    Schämst du dich nicht, nur die kümmerlichen Reste deines Lebens für dich zu behalten und für sinnvolle geistige Beschäftigung nur die Zeit zu bestimmen, die für kein anderes Geschäft mehr taugt.
    Es ist doch reichlich spät, erst dann mit dem Leben beginnen, wenn man es schon bald beenden muss.
    Und wie unvernünftig ist es, seine Sterblichkeit so weit zu vergessen, dass man gute Vorsätze auf das fünfzigste und sechsigste Lebensjahr verschiebt und erst in einem Alter zu leben beginnen will, das nur wenige erreichen.
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  • Was wird sein?
    Du bist beschäftigt … das Leben aber eilt dahin.
    Unterdessen steht der Tod vor der Tür, für den du – ob du willst oder nicht – Zeit haben musst.
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  • Das größte Hindernis im Leben ist die Erwartung, die uns an das Morgen bindet und uns das Heute verlieren lässt.
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  • Was in der Hand des Schicksals liegt, darüber willst du verfügen, was du selbst in der Hand hast, das lässt du los.
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  • Wonach hältst du Ausschau, worauf richtest du deine Hoffnungen?
    Alles was noch kommt, liegt im Ungewissen, JETZT sollst du leben.
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  • Vergil:
    Was zauderst du? Was zögerst du?
    Wenn du die Zeit nicht packst, entflieht sie. Und selbst, wenn du sie gepackt hast, läuft sie dennoch davon.
    Also muss man gegen die Schnelligkeit der Zeit ankämpfen, indem man sie rasch nutzt.
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  • Es gibt nicht das beste Alter, sondern den besten Tag.
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  • Verzettele dich nicht in vielerei Beschäftigung!
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  • Lasse dich nicht fesseln vom äußeren Glanz an sich belangloser Ereignisse! [1]Talkshows und Hypes
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  • Das Leben des Weisen wird dadurch lang, dass er alle Zeiten in eine einzige zusammenfasst.
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  • Trenne dich also von der großen Masse [,mein lieber Paulinus] und ziehe dich endlich in einen ruhigeren Hafen zurück! Du bist ja für deine Jahre schon über Gebühr umgetrieben worden!
    Bedenke doch nur, wie vielen Fluten du schon ausgesetzt warst, wie viele Stürme du im Privatleben ausgehalten, wie viele du in der Öffentlichkeit schon auf dich gezogen hast. In mühevoller und rastloser Tätigkeit hast du schon genügend Beweise deiner Tüchtigkeit gegeben.
    Probier’ jetzt, was sie in der Muse leistet!
    Den größeren Teil deines Lebens, gewiss den besseren, hast du dem Staat gewidmet, etwas von deiner Zeit nimm nun auch für dich.
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  • Deine Geisteskraft [,lieber Paulinus], ist in höchstem Maß befähigt für hohe Aufgaben, rufe sie nun zurück von einem Amt, das zwar ehrenvoll ist, aber nicht ausreicht, um ein glückliches Leben zu führen.
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Fußnoten[+]