Lyrik ~ Klinge
    Versuch einer Dichtung            

30 
 Dezember 
 
2012

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Lutz Görner lädt uns zu einer literarischen Reise ein

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An Sibylle (0:47)
Annette von Droste-Hülshoff (1797 – 1848)

Die Abendröte war zerflossen.
Wir standen an des Weihers Rand,
Und ich hielt meine Hand geschlossen
Um deine kleine, kalte Hand. Ich sprach:
»So müssen wir denn wirklich scheiden?
Das Schicksal würfelt mit uns beiden,
Wir sind wie herrenloses Land.

Da wir von keines Herdes Pflicht gebunden,
Meint jeder nur, wir seien grad
Für sein Bedürfnis nur erfunden,
Das hilfsbereite fünfte Rad.
Was nützt es uns, dass frei wir stehen,
Auf keines Mannes Hände sehen?
Sie zeichnen dennoch uns den Pfad!

O hätten wir nur Mut, zu walten
Der Gaben, die das Glück beschert!
Wer dürft uns hindern? Wer uns halten?
Wer neiden uns den eignen Herd?
So leiden wir nach altem Rechte,
Dass, wer sich selber macht zum Knechte,
Nicht ist der goldnen Freiheit wert.

Zieh hin, wie du berufen worden,
Nach der Campagna Glut und Schweiß!
Und ich will ziehn nach meinem Norden,
Zu siechen unter Schnee und Eis.
Nicht würdig sind wir bessrer Tage,
Denn wer nicht kämpfen mag, der trage!
Dulde, wer nicht zu handeln weiß!«

So habe ich an Weihers Rand gesprochen,
Im Zorne halb, und halb in Pein.
Du, ich, wir hätten gern den Bann gebrochen
Aus all dem Sticheln, allen Tyrannein.
Doch als drauf Regenwolken stiegen,
Wühlten erst recht wir mit Vergnügen
Uns in den Ärger ganz hinein.

So lang die Tropfen einzeln fielen,
Wars Naphtaöl für unsern Trutz.
Auch eins von des Geschickes Spielen:
Zum Schaden uns und Keiner Nutz!
Doch als der Himmel Schlossen streute,
Da machten wirs wie andre Leute
Und suchten einer Linde Schutz.

Dort stand ein Häuflein dicht beisammen,
Sich schauernd unterm Blätterdach.
Die Wolke zuckte Schwefelflammen
Und jagte Regenstriemen nach.
Wir hörtens auf den Blättern springen.
Jedoch kein Tropfen konnte dringen
In unser laubiges Gemach.

Ein armes Häuflein Männlein war es,
Das hier dem Wettersturm entrann.
Ein hagrer Jud gebleichten Haares,
Mit seinem Hund ein blinder Mann,
Ein Schuladjunkt im magren Fracke,
Und dann, mit seinem Bettelsacke,
Der kleine, hinkende Johann.

Und alle sahn bei jedem Stoße
Behaglich an dem Stamm hinauf.
Rückten ihr Bündelchen im Schoße
Und drängten lächelnd sich zuhauf.
Denn um so ärger schlug der Regen,
So breiter warf, dem Sturm entgegen,
Die Linde ihre grünen Schirme auf.

Ich fühlte seltsam mich befangen.
Beschämt, mit hocherglühten Wangen,
Hab in die Krone ich geschaut,
Der Linde, die doch keinem Manne eigen,
Verloren in der Heide stand,
Nicht Früchte trug in ihren Zweigen,
Nicht Nahrung für des Herdes Brand.

Zur Freundin sah ich, sie herüber,
Wir dachten Gleiches wohl vielleicht,
Denn auch Sibylles Miene wurde trüber,
Auch ihre lieben Augen feucht.
Doch haben wir kein Wort gesprochen,
Vom Baum ein Zweiglein nur gebrochen
Und still die Hände uns gereicht.

 

 
Schenke am See (6:18)
Annette von Droste-Hülshoff (1797 – 1848)

Ists nicht ein heitrer Ort, mein junger Freund,
Das kleine Haus, das schier vom Hange gleitet?
Wo so possierlich uns der Wirt begrüßt,
So übermächtig sich die Landschaft breitet?
Wo uns ergötzt, im neckischen Kontrast,
Das Wurzelmännchen mit verschmitzter Miene,
Das wie ein Aal sich schlingt und kugelt fast,
Im Angesicht der stolzen Alpenbühne?

Sitz nieder. – Trauben! – Und behend erscheint
Zopfwedelnd der geschäftige Pygmäe.
O sieh nur, wie manch reife Beere weint
Schon blutge Tränen um des Endes Nähe –
Frisch, greif in die kristallne Schale, frisch!
Die saftigen Rubine glühn und locken!
Schon fühl ich an des Herbstes reichem Tisch,
Den kargen Winter nahn auf leisen Socken –

Das sind dir Hieroglyphen, junges Blut.
Und ich, ich will an deiner lieben Seite
Froh schlürfen meiner Neige letztes Gut –
Schau her, schau drüben in die Näh und Weite,
Wie uns zur Seite sich der Felsen bäumt,
Als könnten wir mit Händen ihn ergreifen!
Wie uns zu Füßen das Gewässer schäumt,
Als könnten wir im Schwunge drüber streifen!

Trink aus! – die Alpen liegen stundenweit.
Nur nah die Meersburg, heimisches Gemäuer.
Wo Träume lagern langverschollner Zeit,
Seltsame Mär und zornge Abenteuer!
Wohl ziemt es mir, in Räumen schwer und grau,
Zu grübeln über dunkler Taten Reste,
Doch du, Levin, schaust aus dem grimmen Bau,
Wie eine Schwalbe aus dem Mauerneste.

Sieh drunten auf dem See im Abendrot
Die Taucherente hin und wieder schlüpfend!
Nun sinkt sie nieder wie des Netzes Lot,
Nun wieder aufwärts mit den Wellen hüpfend!
Seltsames Spiel! Recht wie ein Lebenslauf!
Wir beide schaun gespannten Blickes nieder.
Du flüsterst lächelnd: immer kommt sie auf.
Und ich, ich denke, immer sinkt sie wieder.

Noch einen Blick dem segensreichen Land,
Den Hügeln, Auen, üppgem Wellenrauschen,
Und heimwärts dann, wo von der Zinne Rand
Freundliche Augen unserm Pfade lauschen.
Herr Wirt! – Da haspelt in behendem Lauf
Das Männlein Abschied wedelnd uns entgegen:
»Guts Nächtle! Stehns nit zu zeitig auf!«
Das ist der lustgen Schwaben Abendsegen.

 
 
9 
 Juni 
 
2012

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Wer nie sein Brot mit Tränen aß – Auszug: Wilhelm Meister (0:42)
Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832)

Wer nie sein Brot mit Tränen aß,
Wer nie die kummervollen Nächte,
Auf seinem Bette weinend saß,
Der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte.

Ihr führt ins Leben uns hinein,
Ihr lasst den Armen schuldig werden,
Dann überlasst ihr ihn der Pein.
Denn alle Schuld rächt sich auf Erden.

 

 
Meeresstille (1:09)
Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832)

Tiefe Stille herrscht im Wasser.
Ohne Regung ruht das Meer.
Und bekümmert sieht der Schiffer
Glatte Fläche ringsumher.

Keine Luft von keiner Seite!
Todesstille fürchterlich!
In der ungeheuern Weite
Reget keine Welle sich.

 

 
Nur wer die Sehnsucht kennt (1:39)
Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832)

Nur wer die Sehnsucht kennt,
Weiß, was ich leide!
Allein und abgetrennt
Von aller Freude,
Seh ich ans Firmament
Nach jener Seite.
Ach! Die mich liebt und kennt,
Ist in der Weite.
Es schwindelt mir, es brennt
Mein Eingeweide.
Nur wer die Sehnsucht kennt,
Weiß, was ich leide!

 

 
Aussöhnung (2:31)
Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832)

Die Leidenschaft bringt Leiden! – Wer beschwichtigt,
Beklommnes Herz, dich, das all zu viel verloren?
Wo sind die Stunden, überschnell verflüchtigt?
Vergebens war das Schönste dir erkoren!
Trüb ist der Geist, verworren das Beginnen!
Die hehre Welt, wie schwindet sie den Sinnen!

Da schwebt hervor Musik mit Engelsschwingen,
Verflochten zu Millionen Tön um Töne,
Des Menschen Wesen durch und durch zu dringen,
Zu überfüllen ihn mit ewger Schöne.
Das Auge netzt sich, fühlt im höhern Sehnen
Den Götterwert der Töne wie der Tränen.

Und so das Herz erleichtert merkt behende,
Dass es noch lebt und schlägt und möchte schlagen,
Zum reinsten Dank der überreichen Spende
Sich selbst erwidernd willig darzutragen.
Da fühlte sich – o dass es ewig bliebe! –
Das Doppelglück der Töne wie der Liebe!

 

 
Gesang der Geister über den Wassern (4:11)
Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832)

Des Menschen Seele
Gleicht dem Wasser.
Vom Himmel kommt es,
Zum Himmel steigt es,
Und wieder nieder
Zur Erde muss es,
Ewig wechselnd.

Strömt von der hohen,
Steilen Felswand
Der reine Strahl,
Dann stäubt er lieblich
In Wolkenwellen
Zum glatten Fels.
Und leicht empfangen
Wallt er verschleiernd,
Leis rauschend
Zur Tiefe nieder.

Ragen Klippen
Dem Sturz entgegen,
Schäumt er unmutig
Stufenweise
Zum Abgrund.

Im flachen Bette
Schleicht er das Wiesental hin,
Und in dem glatten See
Weiden ihr Antlitz
Alle Gestirne.

Wind ist der Welle
Lieblicher Buhler.
Wind mischt vom Grund aus
Schäumende Wogen.

Seele des Menschen,
Wie gleichst du dem Wasser!
Schicksal des Menschen,
Wie gleichst du dem Wind!

 

 
Vermächtnis (5:47)
Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832)

Kein Wesen kann zu nichts zerfallen!
Das Ewge regt sich fort in allen.
Am Sein erhalte dich beglückt!
Das Sein ist ewig: denn Gesetze
Bewahren die lebendgen Schätze,
Aus welchen sich das All geschmückt.

Das alte Wahre, fass es an!

Sofort nun wende dich nach innen.
Das Zentrum findest du da drinnen,
Woran kein Edler zweifeln mag.
Wirst keine Regel da vermissen,
Denn das selbständige Gewissen
Ist Sonne deinem Sittentag.

Den Sinnen hast du dann zu trauen.
Kein Falsches lassen sie dich schauen,
Wenn dein Verstand dich wach erhält.
Genieße mäßig Füll und Segen.
Vernunft sei überall zugegen,
Wo Leben sich des Lebens freut.

Dann ist Vergangenheit beständig,
Das Künftige voraus lebendig,
Der Augenblick ist Ewigkeit.

 

 
Wandrers Nachtlied (8:46)
Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832)

Über allen Gipfeln
Ist Ruh.
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch.
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur,
Balde ruhest du auch.

 
 
10 
 April 
 
2012

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Lenore (0:50)
Gottfried August Bürger (1747 – 1794)

Lenore fuhr ums Morgenrot
Empor aus schweren Träumen:
Bist untreu, Wilhelm, oder tot?
Wie lange willst du säumen? –
Er war mit König Friedrichs Macht
Gezogen in die Prager Schlacht,
Und hatte nicht geschrieben,
Ob er gesund geblieben.

Der König und die Kaiserin,
Des langen Haderns müde,
Erweichten ihren harten Sinn,
Und machten endlich Friede.
Und jedes Heer, mit Sing und Sang,
Mit Paukenschlag und Kling und Klang,
Geschmückt mit grünen Reisern,
Zog heim zu seinen Häusern.

Und überall all überall,
Auf Wegen und auf Stegen,
Zog alt und jung dem Jubelschall
Der Kommenden entgegen.
Gottlob! rief Kind und Gattin laut,
Willkommen! manche frohe Braut.
Ach! aber für Lenoren
War Gruß und Kuß verloren.

Sie frug den Zug wohl auf und ab,
Und frug nach allen Namen.
Doch keiner war, der Kunde gab,
Von allen, die da kamen.
Als nun das Heer vorüber war,
Zerraufte sie ihr schwarzes Haar
Und warf sich hin zur Erde,
Verzweifelt, was nun werde.

Lenore weinte und sie rang
Die Hände bis zum Untergang
Der Sonne. Bis am Himmelsbogen
Die goldnen Sterne zogen.
Als sie schon schlief! gings trapp trapp trapp,
Als wie von Rosseshufen;
Und klirrend stieg ein Reiter ab,
An des Geländers Stufen.

Und horch! Es klirrt der Pfortenring
Ganz lose, leise, klinglingling!
Dann kamen durch die Pforte
Vernehmlich diese Worte:
Lenore, du, mach auf mein Kind!
Schläfst, Liebchen, oder wachst du?
Wie bist du gegen mich gesinnt?
Sag, weinest oder lachst du? –

Ach, Wilhelm, du? – So spät bei Nacht? –
Geweinet hab ich und gewacht.
Ach, großes Leid erlitten!
Wo kommst du hergeritten? –
Wir satteln nur um Mitternacht.
Weit ritt ich her von Böhmen.
Ich habe spät mich aufgemacht,
Und will dich mit mir nehmen. –

Ach, Wilhelm, erst herein geschwind!
Den Baum und Strauch durchsaust der Wind,
Herein! In meinen Armen,
Herzliebster, sollst erwarmen! –
Lass sausen doch den Wind, den Sturm!
Lass sausen, Kind, lass sausen!
Der Rappe scharrt, zwölf schlägts vom Turm
Ich darf allhier nicht hausen.

Komm, schürze, spring und schwinge dich
Auf meinen Rappen hinter mich!
Musst heut noch hundert Meilen
Mit mir ins Brautbett eilen. –
Was willst du hundert Meilen noch
Mich heut ins Brautbett tragen?
Still, Liebste! Horch, die Glock brummt noch,
Die zwölf schon angeschlagen.

Lenore, sieh! der Mond scheint hell.
Wir und die Toten reiten schnell.
Ich bringe dich, was Wette,
Noch heut ins Hochzeitsbette.
Sag an, wo ist dein Kämmerlein?
Wo? Wie dein Hochzeitbettchen? –
Weit, weit von hier! – Still, kühl und klein! –
Sechs Bretter und zwei Brettchen! –

Hats Raum für mich? – Für dich und mich!
Komm, schürze, spring und schwinge dich!
Die Hochzeitgäste hoffen.
Die Kammer steht uns offen. –
Lenore schürzte, sprang und schwang
Sich auf das Ross behende.
Um den geliebten Wilhelm schlang
Sie ihre Lilienhände.

Und hurre hurre, hopp hopp hopp!
Gings fort in sausendem Galopp,
Dass Ross und Reiter schnoben,
Und Kies und Funken stoben.
Wie flogen rechts, wie flogen links,
Gebirge, Bäum und Hecken!
Wie flogen links und rechts und links
Die Dörfer, Städt und Flecken! –

Graut Liebchen dir? – Der Mond scheint hell! –
Hurra! die Toten reiten schnell!
Graut Liebchen dir vor Toten? –
Ach! Wilhelm, lass die Toten! –
Vollbracht, vollbracht ist unser Lauf!
Das Hochzeitsbette tut sich auf!
Die Toten reiten schnelle!
Wir sind, wir sind zur Stelle. –

Da sieh! Da sieh! im Augenblick,
Sieh nur! ein grässlich Wunder!
Des Reiters Kleidung, Stück für Stück,
Fiel ab, wie mürber Zunder.
Zum Schädel, ohne Zopf und Schopf,
Zum nackten Schädel ward sein Kopf,
Sein Körper zum Gerippe,
Mit Stundenglas und Hippe.

Hoch bäumte sich, wild schnob sein Pferd,
Und sprühte Feuerfunken.
Wie Nebel war es in der Erd
Verschwunden und versunken.
Sie hört Geheul aus hoher Luft,
Gewinsel hört sie aus der Gruft.
Lenorens Herz, mit Beben,
Rang zwischen Tod und Leben.