29 September 2012 |
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Aus: “Wilhelm Meister”
von Johann Wolfgang von Goethe
Singet nicht in Trauertönen
Von der Einsamkeit der Nacht.
Nein, sie ist, o holde Schönen,
Zur Geselligkeit gemacht.
Wie das Weib dem Mann gegeben
Als die schönste Hälfte war,
Ist die Nacht das halbe Leben
Und die schönste Hälfte zwar.
Könnt ihr euch des Tages freuen,
Der nur Freuden unterbricht?
Er ist gut, sich zu zerstreuen;
Zu was anderm taugt er nicht.
Aber wenn in nächt’ger Stunde
Süsser Lampe Dämmrung fließt,
Und vom Mund zum nahen Munde
Scherz und Liebe sich ergießt;
Wenn der rasche, lose Knabe,
Der sonst wild und feurig eilt,
Oft bei einer kleinen Gabe
Unter leichten Spielen weilt;
Wenn die Nachtigall Verliebten
Liebevoll ein Liedchen singt,
Das Gefangnen und Betrübten
Nur wie Ach und Wehe klingt;
Mit wie leichtem Herzensregen
Horchet ihr der Glocke nicht,
Die mit zwölf bedächtgen Schlägen
Ruh und Sicherheit verspricht.
Darum an dem langen Tage,
Merke dir es, liebe Brust;
Jeder Tag hat seine Plage,
Und die Nacht hat ihre Lust.
Dichtung | Johann Wolfgang von Goethe | |
Lesung | Eva Mattes | |
Bereitstellung | 59Berger |