Lyrik ~ Klinge
    Versuch einer Dichtung            

31 
 Juli 
 
2011


 

DICHTUNG Johann Wolfgang von Goethe
LESUNG Horst Caspar
BEREITSTELLUNG PythiasBest


 

Vor dem Tore

Vom Eise befreit sind Strom und Bäche
Durch des Frühlings holden, belebenden Blick,
Im Tale grünet Hoffnungsglück;
Der alte Winter, in seiner Schwäche,
Zog sich in rauhe Berge zurück.
Von dort her sendet er, fliehend, nur
Ohnmächtige Schauer körnigen Eises
In Streifen über die grünende Flur.
Aber die Sonne duldet kein Weißes,
Überall regt sich Bildung und Streben,
Alles will sie mit Farben beleben;
Doch an Blumen fehlts im Revier,
Sie nimmt geputzte Menschen dafür.
Kehre dich um, von diesen Höhen
Nach der Stadt zurück zu sehen!
Aus dem hohlen finstern Tor
Dringt ein buntes Gewimmel hervor.
Jeder sonnt sich heute so gern.
Sie feiern die Auferstehung des Herrn,
Denn sie sind selber auferstanden:
Aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern,
Aus Handwerks- und Gewerbesbanden,
Aus dem Druck von Giebeln und Dächern,
Aus der Straßen quetschender Enge,
Aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht
Sind sie alle ans Licht gebracht.
Sieh nur, sieh! wie behend sich die Menge
Durch die Gärten und Felder zerschlägt,
Wie der Fluß in Breit und Länge
So manchen lustigen Nachen bewegt,
Und, bis zum Sinken überladen,
Entfernt sich dieser letzte Kahn.
Selbst von des Berges fernen Pfaden
Blinken uns farbige Kleider an.
Ich höre schon des Dorfs Getümmel,
Hier ist des Volkes wahrer Himmel,
Zufrieden jauchzet groß und klein:
Hier bin ich Mensch, hier darf ich sein!

 
 
23 
 November 
 
2007


 

Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?
Es ist der Vater mit seinem Kind.
Er hat den Knaben wohl in dem Arm,
Er faßt ihn sicher, er hält ihn warm.

Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht?
Siehst Vater, du den Erlkönig nicht!
Den Erlenkönig mit Kron’ und Schweif?
Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif.

Du liebes Kind, komm geh’ mit mir!
Gar schöne Spiele, spiel ich mit dir,
Manch bunte Blumen sind an dem Strand,
Meine Mutter hat manch gülden Gewand.

Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht,
Was Erlenkönig mir leise verspricht?
Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind,
In dürren Blättern säuselt der Wind.

Willst feiner Knabe du mit mir geh’n?
Meine Töchter sollen dich warten schön,
Meine Töchter führen den nächtlichen Reihn
Und wiegen und tanzen und singen dich ein.

Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort
Erlkönigs Töchter am düsteren Ort?
Mein Sohn, mein Sohn, ich seh’es genau:
Es scheinen die alten Weiden so grau.

Ich lieb dich, mich reizt deine schöne Gestalt,
Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt!
Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt er mich an,
Erlkönig hat mir ein Leids getan.

Dem Vater grauset’s, er reitet geschwind,
Er hält in den Armen das ächzende Kind,
Erreicht den Hof mit Mühe und Not,
In seinen Armen das Kind war tot.

 
 
7 
 März 
 
2007


 

„Regel wird alles und alles wird Wahl und alles Bedeutung”
Aus: „Der Spaziergang” (Friedrich Schiller)

 

Die Semantik (Bedeutungslehre) – ein wirklich erhabenes und weitreichendes Wissensfeld – führt auf mancherlei Pfade empirischer Einsicht, lässt bisher unbedachte sprachliche Alltagsphänomene kognitv durchdringen und bereichert die sprachliche Sensibilität doch ungemein.

Während ein Wort in einen Zusammenhang eingebettet sich auf einen eindeutigen Sinn begrenzen lässt durch die semantische Kompatibilität zu den syntaktischen Nachbargliedern (Umfeld-Information), lässt dasselbe Wort außerhalb jenes fest abgesteckten Kontextes isoliert und daher mit vielerlei Bedeutungsoffenheit den Geist nach der gemeinten Bedeutung schweifen (Synonomie).

Gerade wegen der Vielschichtigkeit eines (Einzel-)Wortes kann sich der Lesende im Prozess einer glückenden Sinnentnahme in diesem “reizenden Streit” vielfältiger Bedeutungen verlieren.

Wenn nun ein Prüfling während einer Klausur über eine Fragestellung mit bedächtigem Blick gleitet, in diesem Leseakt er auf “Schlüsselwörter” (Oberkategorien, vertraute thematische Felder) hofft, die mit dem Gelernten fruchtbar korrespondieren, sieht er sich trotzdem durchaus einer (zeitlichen) Not ausgesetzt.

Er muss sich emsig nach den Redeblümchen bücken, die er in seiner Prüfungsvorbereitung gepflanzt hat, aus dieser Mannigfaltigkeit aber nur die erlesensten wählen, jene Wortgewächse pflücken, die dem geneigten Prüfer vom Bedeutungsgehalt am meisten beglücken und jene Blümchen dann in ihrer bunten Sonderzahl zu einem geordneten Sträußchen wohlduftender Rede binden.

Der Prüfling ist ein Blumenfreund, der Plaisir an der Zusammenstellung seiner Wortgewächse findet und sich nicht mit der Massenware “Zitate”, mit verschweißten Schnittblumen, zufrieden geben möchte. Ein durchaus vergnügliches Unterfangen also, das aber gerade wegen des vorgegebenen Zeitrahmens einer Prüfungssituation einen Stoß erleiden kann und daher nicht Vollendung findet, oft zur getrübten Augenfreude des Prüfers, untröstlich für den Prüfling selbst.

Aus dem edlen Vorhaben einer Blumenlese wird ein flüchtig gebundenes Blumengestrüpp, das in der Blumenwahl Sorgfaltspflicht missen lässt, da gerade in einer bedrohlichen Prüfungssituation manches nachtende Angstgewölk (Black-Out) den Freiblick über das Blumenfeld dem schauenden Geist verfinstert und allbeglückende Redeblümchen erst nach Tagen (der Prüfung) im dämmernden Tal, in den Niederungen des Alltags sich urplötzlich sichten, sich herzeigen im Glanz wieder erlangter Schöne im tagenden Licht der Erinnerung.