Lyrik ~ Klinge
    Versuch einer Dichtung            

29 
 Januar 
 
2016

abgelegt in
Gedankenschau

 

Unter Bildungsniveau verstehe ich nicht die sprachliche Kompetenz der Muttersprache, noch die kognitive Durchdringung mathematischer Zusammenhänge, noch die Wissensanhäufung in Geistes- oder Kulturwissenschaften.
Bildung (engl. “education”) meint Er-Ziehung, das Hin-Ziehen zu Normen und Werten einer menschlichen Gemeinschaft bis hin zu deren Verinnerlichung (Internalisierung).

Erziehungsberechtigte als auch gesetzliche Vorgaben erfüllen in Anlehnung an Erich Fromm nur die temporäre Funktion, Verhaltensweisen wach zu halten und durch ständige Präsenz (Außenwirkung) strukturgebend eigenes Verhalten dahin langfristig zu “installieren”, das die inneren Moralvorstellungen zu einem Konsens mit dem äußeren moralischen Kodex führt.

Werden also gewisse Gesellschaftsregeln menschlichen Umgangs eingehalten, einem Normenkatalog gefolgt, so kann man auch bei einem Menschen mit einer geistigen Behinderung von einem hohen Bildungsniveau durchaus sprechen, wobei ein Akademiker mit sozial unverträglichem Verhalten in diesem Zusammenhang ein niedriges Bildungsniveau aufweist.

 
 
16 
 August 
 
2015


 

[…] Noch ein anderer häufiger Irrtum ist in diesem Zusammenhang zu erwähnen, nämlich die Illusion, Liebe bedeute notwendigerweise, dass es niemals zu Konflikten komme.
Genauso wie Menschen gewöhnlich meinen, Schmerz und Traurigkeit müssten unter allen Umständen vermieden werden, so glauben sie auch, Liebe bedeute das Fehlen jeglicher Konflikte. Sie haben auch allen Grund zu dieser Annahme, weil die Streitigkeiten in ihrer Umgebung offenbar nichts als destruktive Auseinandersetzungen sind, die keinem Beteiligten irgendeinen Nutzen bringen. [1]Erich Fromm: Die Kunst des Liebens.
Die Liebe und ihr Verfall in der heutigen westlichen Gesellschaft.
S.137.

Die Ursache hierfür ist jedoch, dass die “Konflikte” der meisten Menschen in Wirklichkeit Versuche darstellen, den wirklichen Konflikten auszuweichen. Es sind Meinungsverschiedenheiten über geringfügige, nebensächliche Dinge, die sich in ihrer Natur nicht dazu eignen, etwas klar zu stellen oder zu einer Lösung zu kommen. Wirkliche Konflikte zwischen zwei Menschen, die nicht dazu dienen, etwas zu verdecken oder auf den anderen zu projizieren, sondern die in der Tiefenschicht der inneren Wirklichkeit, zu der sie gehören, erlebt werden, sind nicht destruktiv. Sie dienen der Klärung und führen zu einer Katharsis, aus der beide Partner wissender und gestärkt hervorgehen. [2]Erich Fromm: Die Kunst des Liebens.
Die Liebe und ihr Verfall in der heutigen westlichen Gesellschaft.
S.137-138.

Wieso sollte es verwehrt sein, in einer Beziehung über (Ur-)Ängste sich auszutauschen und dadurch seinem Gegenüber sich besser zu erklären?

Anstatt wie in einem Stellungskrieg (→Die Fronten erstarrten) unsere subjektiv legitimierten Standpunkte verbissen zu verteidigen, sollten wir mehr über die eigenen Ängste und die des anderen sprechen, denn diese sind am verwurzelsten und handlungsleitend. Dies ermöglicht wahres, ganzheitliches Verständnis für sein Gegenüber und dessen für uns oft so irrational erscheinendes Verhaltensmuster. Sich in den gegenseitigen Ängsten zu begegnen, ist vielleicht die elemenarste Begegnung überhaupt.

Es muss und darf nicht innerhalb einer Beziehung immer unentwegter Wonnefluss bestehen, es dürfen auch die Worte versiegen und Tränen innerer Verzweiflung fließen.

Fußnoten[+]

 
 
10 
 August 
 
2015

abgelegt in
Gedankenschau

 

Ist es der momentan vorüberziehende Donnergroll oder der klärende Regenprall, der die ersehnte Abkühlung auch meines Gemüts gestattet und mich Erdenwurm mahnt zur Einsicht, zur kühlen Einsicht der Dinge?

So einfallsreich und wechselvoll oft das Schicksal in seinen wirren Handlungssträngen ist, so mechanisch und klar strukturiert greift das Schicksal allerdings oft auch auf bewährte (Leid-)Muster zurück.
Man kann durchaus annehmen, dass die Geschichte (der Menschheit oder des Einzelwesens) eine Wiederholungstäterin ist.

Das Schicksal bedient sich nicht selten im Theaterstück “Leben” des dramaturgischen und äußerst effektvollen Mittels des Perspektivwechsels.
Bereits ereignete Szenen wiederholen sich, allerdings mit vertauschten Rollen der Mitwirkenden:
In der Durchführung einer festgelegten Szene übernimmt man einmal eine handelnde Rolle (Tätigkeitsform), zu einem späteren Zeitpunkt in einem ähnlich gearteten Handlungskontext die Rolle des passiv Erduldenden (Leideform).

Die Sicht der Dinge wurde somit also vertauscht, das Empathievermögen für unterschiedliche Blickwinkel sensibilisiert, Reflektion möglich gemacht hinsichtlich einer Aktion (als Aktiver) und deren emotionalen (Aus-)Wirkung auf andere (als später Passiver).
Es ist somit möglich, einst (als Aktiver) verursachtes Leid zu einem späteren Zeitpunkt (als Passiver) nachzuempfinden ( [1]Spiegelneuronen. Aufmerksame Beobachter im Kopf ), zu gereuen, vielleicht auch Abbitte zu leisten.

Interessant erscheint mir hier, dass jene als nunmehr Passiver erzeugte Empfindung (wie z.B. Mitleid) nicht unbedingt aus religiösen Wertvorstellungen erwachsen noch auf einem gesellschaftlichen Verhaltenskodex fußen muss.
Diese Empfindung, dieses Gefühl ist ein archetpyisches Ur-Gefühl, unkonditioniert, das nicht erlernt werden muss. Es ist humanspezifisch (!) und rein hinsichtlich erzieherischen Eintrübungen. Es ist souverän.
Diese souveränen Ur-Gefühle sind demnach auch kultur- und epochenübegreifend oder -treffend von Erich Fromm formuliert – ähnlich des allen uns innewohnenden Gefühls des Abgetrenntseins, …

… dem panischen Entsetzen vor einer völligen Isolation […] von der Außenwelt.
Der Mensch sieht sich – zu allen Zeiten und in allen Kulturen – vor das Problem der Lösung der einen und immer gleichen Frage gestellt: wie er sein Abgetrenntsein überwinden, wie er zur Vereinigung gelangen, wie er sein eigenes einzelnen Leben transzendieren und das Einswerden erreichen kann. Die Frage stellt sich dem Primitiven in seiner Höhle wie dem Nomaden, der seine Herde hütet, dem ägyptischen Bauern, dem phönizischen Händler, dem japanischen Samurai, dem modernen Büroangestellten und dem Fabrikarbeiter auf gleiche Weise. [2]Erich Fromm: Die Kunst des Liebens.
Liebe als Antwort auf das Problem der menschlichen Existenz.
S.19.

Es gilt nunmehr, den einst (als Aktiver) durch eine bewusste Handlung verursachten Fremdschmerz dem eigenen Aufschrei an Schmerzen (als passiv Erduldender) entgegenzusetzen (eventuell mit Schmerzlöschung bei einer (vollständigen) destruktiven Interferenz, Katharsis).
Da der einst eigenverursachte Schmerz allerdings größer sein dürfte als der momentan zu erduldende, kann es nicht zur gänzlichen Aufhebung des Schmerzes kommen.
Auf jeden Fall wird durch einen Perspektivenwechsel die eigene, meist in der selbsterwählten Opferrolle übertriebene Weltanklage relativiert und man selbst in seinem kindlich verhafteten Narzissmus hoffentlich von jener Selbstsucht geheilt.

Somit wird – auch trotz fehlender Wiedergutmachung des verursachten Schadens – eine (künftig fruchtbare) Verhaltensmodifikation vollzogen.

Danke für das kurzweilige Unwetter, Dank dem Regenguss aus Himmelshöhen für das moralisch ausgelaugte Ödland meines Herzens!

Gott ist kein Sadist, er ist Direktor des Welttheaters mit höchst pädagogischen Absichten.

Weise mir, Herr, nicht Deinen Weg, dass ich wandle in Deiner Wahrheit wie meine Väter und (Ur-)Väter bereits den Pfad der Tugend beschritten, lasse mich nicht wie ein Lemming nachtrotten!

Weise mir nicht den Weg, sondern versetze mich in (Ur-)Gefühlszustände, dass mein glühendes Herz selbst die Wahrheit nicht nur sieht, erkennt, sondern erfühlt und der reflektierten Wahrheit folgt.

Fußnoten[+]