Lyrik ~ Klinge
    Versuch einer Dichtung            

28 
 Juni 
 
2012

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DICHTUNG Gottfried Benn
LESUNG Gottfried Benn



Verlorenes Ich, zersprengt von Stratosphären,
Opfer des Ion: – Gamma – Strahlen .- Lamm -,
Teilchen und Feld: – Unendlichkeitschimären
Auf deinem grauen Stein von Notre – Dame.

Die Tage gehen dir ohne Nacht und Morgen,
die Jahre halten ohne Schnee und Frucht
bedrohend das Unendliche verborgen -,
die Welt als Flucht.

Wo endest du, wo lagerst du, wo breiten
Sich deine Sphären an -, Verlust, Gewinn -:
Ein Spiel von Bestien. Ewigkeiten,
an ihren Gittern fliehst du hin.

Der Bestienblick: die Sterne als Kaldaunen,
Der Dschungeltod als Seins- und Schöpfungsgrund,
Mensch, Völkerschlachten, Katalaunen
Hinab den Bestienschlund.

Die Welt zerdacht. Und Raum und Zeiten
Und was die Menschheit wob und wog,
Funktion nur von Unendlichkeiten,
die Mythe log.

Woher, wohin -, nicht Nacht, nicht Morgen,
kein Evoë, kein Requiem,
du möchtest dir ein Stichwort borgen -,
allein bei wem?

Ach, als sich alle einer Mitte neigten
Und auch die Denker nur den Gott gedacht,
sie sich den Hirten und dem Lamm verzweigten,
wenn aus dem Kelch das Blut sie rein gemacht,

und alle rannen aus der einen Wunde,
brachen das Brot, das jeglicher genoss -,
oh ferne zwingende erfüllte Stunde,
die einst auch das verlorene Ich umschloss.

 
 
22 
 Mai 
 
2011


 

Himmlischer Gnaden zuteil,
sandtest uns du damals, Mutter der Musen, des Abakus‘ Geist im
Spiel der Weisen herab, dessen tiefes Geheimnis sich still dem
Forschenden will offenbaren, wenn er bedächtig das Führen
edler Figuren auf vorgezeichneten Bahnen vollziehet,
wie auch das ewig waltende Schicksal daselbst gestrengen
Bahnen und Ordnungen folgt.

So beugt sich der Spieler nun auch im
Schach den Gesetzen höherer Ordnung:

Beschreitet Pfade geöffneter Linien,
einst ihm verschlossen, nunmehr des eisernen Riegels befreit.

Was durch des Argen Hand in Besitz genommen, wo Verwüstung gar drohte,
löst wie Nebel sich auf und bescheret den Schauernden
mit friedvollem Feld zur ewigen Rast.

Von Wolken verhangen gewahret kein Auge das Weite, doch ihrer zerrissen
strahlet das Glück nun frei übers weite Gefild und
endiget erst im letzten Winkel der Welt.

Der Fronten erstarrt, beflügelt die nun gesprengte Blockade den gehemmten
Fuß zu vollenden den Lauf, zu erlangen den siegreichen Lorbeer.

*

Ehrwürd’ges Schachspiel, dein Weltengebäu ist Sinnbild uns,
Erquickung und Mahnung zugleich,
spiegelst Triumph und Drangsal des menschlichen Lebens in vielfach
wechselnder Weise. Erzeig’ uns den hohen Willen, der in dir
wohnt und lehre uns handeln nach seinen Gesetzen!

 
 
12 
 September 
 
2007


 

 

Über die enge Verwandtschaft zwischen Erzählung und Träumen
Ein Referat im Studienbereich LBK bei Herrn Hubert Habig (September 2007),
inhaltlich und oft auch begrifflich angelehnt an Johannes Merkel


 

Wie ein Geschwisterpaar reichen Erzählung und Traumbild sich treu die
Hände, vereinigen sich wie zwei Flüsse es tun:
Rauschend’ Verlangen mit strömenden Worten hinstrebend und einend
still sich ergeben sodann ins unendliche Meer.

Nichts unterscheidet der Kinder recht schlichten Erzählung von Erwachs’ner
wohlfeiler Rede noch von Goethe’s poet’scher Gewalt.
In der Abwandlung Vielfalt sind’s stets die gleichen Strukturen,
stets ist’s derselbige Quell, dem der Wortfluss entströmt.

Wie die Phantastik Erzählungen nährt, sich erbaut am Fiktiven,
so erscheint alles im Traum wirklich und unecht zugleich.
Vieles entzieht sich der zeitlichen [geordneten] Folge, die Handlung ist allzu
lose und dürftig verknüpft: Wirrspiel, es lastet allzeit.

Stets regiert in der Kinder Erzählung und Traum die Bedrohung,
größer jedoch ist der Wunsch wie man Herr der Gefahr
dennoch wird, wenn Gespenster und Hexen umscharend sich nahen:
Keine rettende Fee wendet das Unheil jäh ab,
nur im Enteilen, im Fluchtergreifen empfängt die geplagte
kindliche Seele ihr Heil, nicht im heroischen Kampf.

Reich sind die kindlichen Formen idyllisch gezeichneter Traumwelt,
allerlei Schreckensgebild’ als auch des Wunschdenkens viel.

Leid erduldet die tragische Heldenfigur oft im Traume:
Immerdar während sind Krieg, Massenvernichtung und Tod,
die den nächtlichen Traum thematisch bestimmen und bis zum
fünften Lebensjahr noch feldregierend bestehn.

Erst im achten Jahre, mit wachsender Reife, erringt er-
starkender Wille den Sieg, bietet die Stirn der Gefahr.

Hier sei auf Grof erläuternd verwiesen, der engen Bezug zum
Austreiben leiblicher Frucht bei der Geburt darin sieht.
Er betont die symbiotische Einheit des Fötus zur Mutter,
die in der Schwangerschaft stets durch den Nabel vereint.
Dann mit der Wehen mechanischer Krämpfe verengt sich der Raum und
jene Verengung beschwört existentielle Gefahr.
Letztlich bewirkt die allmähliche Austreibung oft dann nicht minder
einen Sauerstoffmangel als auch massiv mechanischen Druck.
Dieser durchlebte traumatische Vorgang ist wohl der Grund für
grausamen Kampf, dem der Held in dem Traume sich stellt.

Weshalb erwacht nun das Kind aus verworrenem Traume, der sinnzer-
fetzt keine wahre Konfliktlösung, keinen Abschluss erfuhr?

Sprachlich gefasst müssen Traumbilder werden, denn nur im Gespräch mit
Anderen klärt sich Struktur, füget sich Bild nur an Bild.
Darin erzeigt sich der Sinn des Erzählens, dass des geträumten
Drangsal Ventil dann erfährt, damit Befriedung erlangt,
weil des Alltags Erfahrung im Traum als Bilderpartikel
oft zersplittert sich stellt, aufsteigt aus Tiefen des Seins
und durch ein ordnendes Muster geformt dann hervortritt als Ganzes.

Jenes Muster als treibende Kraft offenbart sich nicht nur
-wie schon erwähnt- in dem Traum. Auch in des kindlichen Spiels
greifbaren Ausdruck wirket es mächtiglich fort, im Erzählen
sucht es im Worte Gestalt, kündigt sich auch in Ideen,
die in des Alltags bescheidenem Werke fromm uns begatten.

So erkannte schon Freud, Vater der Traumdeutung, dass
Träume verschlüsselte Botschaften sind, Hyroglyphen gekleidet
in des Tages Gescheh’n, „Tagesreste” genannt.
Bild und Handlungssequenzen verdichtet zu straffem Gefüge
weisen als Medium fungier’nd auf den seelischen Kern.

Jung, ein Vertreter im gleichen Fache, vermutete, dass der
Menscheitsgeschichte Gesamt in der Seele Bezirk
Niederschlag fand und als “kollektiv Unbewusstes” in Form von
Archetypen (im Griech’schen auch als ‘Urbild’ benannt),
sich der symbolischen Deutung bemächtigt, ein Gegenpol sprachlich
kognitiven Konzepts, der Hypothese des Freud.

Jung zudem sieht im Traum Parallelen zum klassischen Drama,
wenn in der Exposition Themeneröffnung sich bahnt,
so gestaltet das Unbewusste im Träumenden dies und
wird durch Symbol dem Bewusst-Sein verständlich gemacht.

Gleichfalls erfährt im klassischen Drama die Handlung ein Aufschwung,
wie auch im Traum die Tendenz steigender Handlung besteht.