20 Februar 2019 | |
DICHTUNG | Rainer Maria Rilke | |
LESUNG | Iris Berben | |
BEREITSTELLUNG | LYRIK & MUSIK |
Mir ist, als ob ich alles Licht verlöre.
Der Abend naht und heimlich wird das Haus;
ich breite einsam beide Arme aus,
und keiner sagt mir, wo ich hingehöre.
Wozu hab ich am Tage alle Pracht
gesammelt in den Gärten und den Gassen,
kann ich dir zeigen nicht in meiner Nacht,
wie mich der neue Reichtum größer macht
und wie mir alle Kronen passen?
3 März 2018 | |
DICHTUNG | Conrad Ferdinand Meyer | |
LESUNG | Walter Franck | |
BEREITSTELLUNG | LYRIK & MUSIK |
Ich bin einmal in einem Tal gegangen,
Das fern der Welt, dem Himmel nahe war,
Durch das Gelände seiner Wiesen klangen
Die Sensen rings der zweiten Mahd im Jahr.
Ich schritt durch eines Dörfchens stille Gassen.
Kein Laut. Vor einer Hütte sass allein
Ein alter Mann, von seiner Kraft verlassen,
Und schaute feiernd auf den Firneschein.
Zuweilen, in die Hand gelegt die Stirne,
Seh ich den Himmel jenes Tales blaun,
Den Müden seh ich wieder auf die Firne,
Die nahen, selig klaren Firne schaun.
′s ist nur ein Traum. Wohl ist der Greis geschieden
Aus dieser Sonne Licht, von Jahren schwer;
Er schlummert wohl in seines Grabes Frieden,
Und seine Bank steht vor der Hütte leer.
Noch pulst mein Leben feurig. Wie den andern
Kommt mir ein Tag, da mich die Kraft verrät;
Dann will ich langsam in die Berge wandern
Und suchen, wo die Bank des Alten steht.
23 Dezember 2017 | |
DICHTUNG | Theodor Storm | |
LESUNG | Christian Rode | |
BEREITSTELLUNG | wortlover |
Weihnachtabend 1852
Die fremde Stadt durchschritt ich sorgenvoll,
Der Kinder denkend, die ich ließ zu Haus.
Weihnachten war’s; durch alle Gassen scholl
Der Kinderjubel und des Markts Gebraus.
Und wie der Menschenstrom mich fortgespült,
Drang mir ein heiser Stimmlein in das Ohr:
»Kauft, lieber Herr!« Ein magres Händchen hielt
Feilbietend mir ein ärmlich Spielzeug vor.
Ich schrak empor, und beim Laternenschein
Sah ich ein bleiches Kinderangesicht;
Wes Alters und Geschlechts es mochte sein,
Erkannt ich im Vorübertreiben nicht.
Nur von dem Treppenstein, darauf es saß,
Noch immer hört ich, mühsam, wie es schien:
»Kauft, lieber Herr!« den Ruf ohn Unterlaß;
Doch hat wohl keiner ihm Gehör verliehn.
Und ich? – War’s Ungeschick, war es die Scham,
Am Weg zu handeln mit dem Bettelkind?
Eh meine Hand zu meiner Börse kam,
Verscholl das Stimmlein hinter mir im Wind.
Doch als ich endlich war mit mir allein,
Erfaßte mich die Angst im Herzen so,
Als säß mein eigen Kind auf jenem Stein
Und schrie nach Brot, indessen ich entfloh.