Lyrik ~ Klinge
    Versuch einer Dichtung            

13 
 August 
 
2011


 

Orpheus galt im antiken Griechenland als ein vom Gotte Apollon begünstigter Sänger, der das Spiel mit der Lyra (Leier) nicht mit dem Flötenspiel begleiten ließ, wie es zur damaligen Zeit üblich war, sondern dazu eigens seine göttergesalbte Stimme erhob, die selbst das Tierreich betörte und die unbelebte Natur beseelte.

Neben Anwendung des freien Versmaßes stimmte Orpheus die vorgesungenen Texte durch eine wiederkehrende Rhythmik (Metrik) auf das Lyraspiel ab, dass Gesang und Saitenspiel melodisch sich im Einklang fanden.

Zu diesem Zwecke schrieb Orpheus seine vorgetragenen Texte zuweilen im Hexametermaß und galt daher als geistiger Vater desselbigen.

Orpheus, Heros der liebschallenden Künste, beklagt in der Gestalt der Eurydike das entrissene, ins Schattenreich hinabgeführte Ideal des Schönen und der Seelenharmonie irdischer Glückseligkeit.

 
 
13 
 August 
 


 

Eurydike, anmutige Baumnymphe und Zartspross edlern Triebs, entfloh des Aristaios’ jäh entflammter Begierde und ward in aufgebrachter Unacht von nied’rer Schlangenbrut gebissen. Eurydike erlag dem gieren Raffzahn und fuhr hinab ins Totenreich.

Orpheus, Sohn der Muse Kalliope und wehklagender Gatte Eurydikes, folgte der Spur der Entschwund’nen zum Ort des ewigen Dunkels, ersonn mit Saitenspiel und Beigesang die Gunst des Schattenfürsten zu erringen und erhob die Klage, mit der Seele mattem Flügelschlage.

Jener ward betört von Orpheus erhabener Kunst und gewährte den Liebenden freies Geleit.

Orpheus voran, Eurydike im treuen Gefolge, gelobte der Sänger dem Hades nicht der Liebsten Antlitz zu schau’n auf dem Rückweg aus dem Reiche der Schatten.

Die Teure indes gewahrte den geifernden Kerberos, hündischer Hüter der Schwelle zum Orkus. Es bangte ihr Busen und fasste des Liebenden Hand. Schauernd wandte sich Orpheus zum zitternden Weibe … und brach sein Versprechen.

Somit wurde Eurydike Orpheus, dem Untröstlichen, gänzlich entrissen, des Orkus’ Pforten auf ewig verschlossen.

Des Todes Schatten bleierne Kuss lag schmachtend auf zarter Seele welkem Geblüte und schlug den Musensohn in Banden.

 
 
8 
 August 
 
2011


 

“Niederstürzen möchte ich mich und anbeten
am Altar reiner Verehrung!”

 
Ob ich die Frauen verehre, sie gar im Stillen vergött’re?
Ja, im Gesang und der Dichtung, wo Reines verschmilzt, sich
alles verdichtet und sich übersteigert ins Geist’ge, ins wahre
Schöne verkläret, dem ewig Unfassbaren! Keines verschmähten
Mannes Frevelhand darf dich [holdes Weib], dem Erdkreis enthoben, nun schänden,
kein lüstern Aug’ dich erschauen, kein weltlärmertäubtes Ohr dir
lauschen im heil’gen Bezirke des ätherdurchwogenden Sphärengesanges!

 


O ecclesia
Hildegard von Bingen

 

O Ecclesia,
oculi tui similes saphiro sunt,
et aures tue monti Bethel,
et nasus tuus est
sicut mons mirre et thuris,
et os tuum quasi sonus
aquarum multarum.

In visione vere fidei
Ursula filium dei amavit
et virum cum hoc seculo reliquit
et in solem aspexit
atque pulcherrimum iuvenem vocavit,
dicens:

“In multo desiderio
desideravi ad te venire,
et in celestibus nuptiis tecum sedere,
per alienam viam ad te currens
velut nubes
que in purissimo aere currit similes saphiro.”

Et postquam Ursula sic dixerat,
rumor iste per omnes populos exiit.

Et dixerunt:
“Innocentia puellaris ignorantie
nescit quid dicit.”

Et ceperunt ludere cum illa
in magna symphonia,
usque cum ignea sarcina super eam cecidit.

Unde omnes cognoscebant:
quia contemptus mundi
est sicut mons Bethel.

Et cognoverunt etiam
suavissimum odorem mirre et thuris,
quoniam contemptus mundi
super omnia ascendit.

Tunc diabolus membra sua invasit,
que nobilissimos mores
in coporibus istis occiderunt.

Et hoc in alto voce
omnia elementa audierunt
et ante thronum Dei dixerunt:

“Wach! rubicundus sanguis innocentis agni
in desponsatione sua effusus est.

Hoc audiant omnes celi
et in summa symphonia
laudent Agnum Dei,
quia guttur serpentis antique
in istis margaritis
materie Verbi Dei
suffocatum est.”

Oh, [heilige] Kirche,
deine Augen sind wie ein Saphir
und deine Ohren wie der Berg Bethel
und deine Nase ist
wie ein Berg von Myrrhe und Weihrauch
und dein Mund ist [klingt] wie
rauschende Wasser.

In der Schau des wahren Glaubens
hat Ursula den Sohn Gottes geliebt
und dem Mann und der Welt entsagt
und sie blickte in die Sonne
und erblickte den strahlenden Jüngling
und sprach:

“Mit großem Verlangen habe ich mich gesehnt,
zu dir zu gelangen
und in himmlischer Vermählung bei dir zu sein.
Auf einem unbekannten Wege eilte ich zu dir,
wie eine Wolke,
die in reinem Äther dahineilt einem Saphir gleich.”

Und als Ursula so vernehmbar gesprochen hatte,
da ging ein Raunen durch alle Völker.

Und sie sprachen:
“Diese mädchenhafte Unschuld,
sie weiß in ihrer Einfalt nicht, was sie sagt.”

Und sie begangen mit ihr zu spielen
mit großem Klang
bis eine Feuergarbe auf sie niederfiel.

Da erkannten alle:
Die Weltverachtung
gleicht dem Berg Bethel.

Und sie erkannten auch
den süßen Duft von Myrrhe und Weihrauch,
denn die Weltverachtung
steigt über alles steigt.

Der Teufel aber schickte die Seinen,
um das Edelste
in diesen Körpern zu vernichten.

Und was laut vernehmbar wurde,
das hörten alle Elemente
und vor dem Thron Gottes sprachen sie:

“Wehe! Das leuchtendrote Blut des Lammes
ist bei seiner Vermählung vergossen worden.

Die sollen alle Himmel hören
und mit allen Stimmen
lobpreisen das Lamm Gottes,
denn der Rachen der alten Schlange
ist durch diese Perlen,
aus Gottes Wort erschaffen,
erstickt worden.”