Lyrik ~ Klinge
    Versuch einer Dichtung            

9 
 April 
 
2012

abgelegt in
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Über Missklänge, Dur-­Akkorde
und den leisen Zwischentönen
auf der Weltklaviatur

 

Einstimmung der Hörerschaft
Geistiger Fortschritt
 
 
Die Partitur
I.        Dichtung und Klarheit
II.        Kunstbegriffe
III.        Wein-Nachten
IV.        Nord-Südstaaten-Geplänkel
V.        Die Macht der Kategorie
VI.        Ich will den Schuss!
VII.        Monarchie in vier Wänden
D.C. al fine

 
 
5 
 April 
 
2012

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Lutz Görner lädt uns zu einer literarischen Reise ein

Tausend Dank an Lutz Görner für die Einstellung auf YouTube!
Eventuelle Kommentare zum Video-Clip bitte direkt auf YouTube!

 

 
Aus den römischen Elegien (1:02)
Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832)

[…]
Mehr als ich ahndete schön, das Glück, es ist mir geworden.
Amor führte mich klug allen Palästen vorbei.
Ihm ist es lange bekannt, auch hab ich es selbst wohl erfahren,
Was ein goldenes Gemach hinter Tapeten verbirgt.
Nennet blind ihn und Knaben und ungezogen, ich kenne
Kluger Amor dich wohl, nimmer bestechlicher Gott!
Uns verführten sie nicht, die majestätischen Fassaden.
Eilig ging es vorbei, und niedere zierliche Pforte
Nahm den Führer zugleich, nahm den Verlangenden auf.
Alles verschafft er mir da, hilft alles und alles erhalten,
Streuet jeglichen Tag frischere Rosen mir auf.
Hab ich den Himmel nicht hier? – Was gibst du, schöne Borghese,
Nipotina, was gibst deinem Geliebten du mehr?
Tafel, Gesellschaft und Spiel und Oper und Bälle,
Amorn rauben sie oft nur die gelegenste Zeit.
Ekel bleibt mir Gezier und Putz, und hebet am Ende
Sich ein brokatener Rock nicht wie ein wollener auf?
Oder will sie bequem den Freund im Busen verbergen,
Wünscht er von alle dem Schmuck nicht schon behend sie befreit?
Müssen nicht jene Juwelen und Spitzen, Polster und Fischbein
alle zusammen herab, eh er die Liebliche fühlt?
Näher haben wir das! Schon fällt dein wollenes Kleidchen,
So wie der Freund es gelöst, faltig zum Boden hinab.
Eilig trägt er das Kind, in leichter linnener Hülle,
Wie es der Amme geziemt, scherzend aufs Lager hinan.
Ohne das seidene Gehäng und ohne gestickte Matratzen
Stehet es, zweien bequem, frei in dem weiten Gemach.
Nehme dann Jupiter mehr von seiner Juno, es lasse
Wohler sich, wenn er es kann, irgendein Sterblicher sein.
Uns ergötzen die Freuden des echten, nacketen Amors
Und des geschaukelten Bettes lieblich knarrender Ton.
[…]

 

 
Morgenklagen (4:30)
Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832)

O du loses, leidigliebes Mädchen
Sag mir an: womit hab ichs verschuldet,
Dass du mich auf diese Folter spannest,
Dass du dein gegeben Wort gebrochen?

Drucktest doch so freundlich gestern Abend
Mir die Hände, lispeltest so lieblich:
»Ja, ich komme, komme gegen Morgen
Ganz gewiss, mein Freund, auf deine Stube.«

Angelehnet ließ ich meine Türe.
Hatte wohl die Angeln erst geprüfet
Und mich recht gefreut, dass sie nicht knarrten.

Welche Nacht des Wartens ist vergangen!
Wacht ich doch und zählte jedes Viertel.
Schlief ich ein auf wenig Augenblicke,
War mein Herz beständig wach geblieben,
Weckte mich von meinem leisen Schlummer.

Ja, da segnet ich die Finsternisse,
Die so ruhig alles überdeckten,
Freute mich der allgemeinen Stille,
Horchte lauschend immer in die Stille,
Ob sich nicht ein Laut bewegen möchte.

»Hätte sie Gedanken, wie ich denke,
Hätte sie Gefühl, wie ich empfinde,
Würde sie den Morgen nicht erwarten,
Würde schon in dieser Stunde kommen.«

Hüpft ein Kätzchen oben übern Boden,
Knisterte das Mäuschen in der Ecke,
Regte sich, ich weiß nicht was, im Hause,
Immer hofft ich, deinen Schritt zu hören,
Immer glaubt ich, deinen Tritt zu hören.

Und so lag ich lang und immer länger,
Und es fing der Tag schon an zu grauen,
Und es rauschte hier und rauschte dorten.

Ich saß aufgestemmt in meinem Bette,
Schaute nach der halberhellten Türe,
Ob sie sich nicht wohl bewegen möchte.
Angelehnet blieben beide Flügel
Auf den leisen Angeln ruhig hangen.

Und der Tag ward immer hell und heller.
Hört ich schon des Nachbars Türe gehen,
Der da Taglohn zu gewinnen eilet,
Hört ich bald darauf die Wagen rasseln,
War das Tor der Stadt nun auch eröffnet,
Und es regte sich der ganze Plunder
Des bewegten Marktes durcheinander.

Ward nun in dem Haus ein Gehn und Kommen
Auf und ab die Stiegen hin und wieder,
Knarrten Türen, klapperten die Tritte.
Doch ich konnte, wie vom schönen Leben,
Mich noch nicht von meiner Hoffnung scheiden.

Endlich als die ganz verhasste Sonne
Meine Fenster traf und meine Wände,
Sprang ich auf und eilte nach dem Garten,
Meinen heißen sehnsuchtsvollen Atem
Mit der kühlen Morgenluft zu mischen,
Dir vielleicht im Garten zu begegnen.
Und nun bist du weder in der Laube
Noch im hohen Lindengang zu finden.

 

 
Gefunden (7:16)
Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832)

Ich ging im Walde
So für mich hin,
Und nichts zu suchen,
Das war mein Sinn.

Im Schatten sah ich
Ein Blümchen stehn,
Wie Sterne leuchtend,
Wie Äuglein schön.

Ich wollt es brechen,
Da sagt es fein:
»Soll ich zum Welken
Gebrochen sein?«

Ich grubs mit allen
Den Würzlein aus,
Zum Garten trug ichs
Am hübschen Haus.

Und pflanzt es wieder
Am stillen Ort.
Nun zweigt es immer
Und blüht so fort.

 
 
27 
 August 
 
2011

abgelegt in
Gedankenschau

 

Die Erzählung ist nicht ganz unbekannt.
Ein schiffbrüchiger Mann mit nur noch einem Auge strandet an einer fernhin entlegenen Insel, die von Blinden besiedelt wird.
Diese Blindheit ist kein erworbener Defekt, sondern besteht seit ihrer Geburt, ist typisch für diese Art von Menschen. Diese Menschen kennen demzufolge keine Farben, ist das Grün des Grases fremd, die Himmelsbläue blieb zeitlebens ungesehen, die flammende Abendröte hieß nimmer sie schwärmen.
Doch die Blinden trauern nicht der bunten Farbenwelt nach.
Wieso auch? Was man nicht kennt, kann man auch nicht vermissen.

Und das gesellschaftliche Leben auf der Insel funktioniert auch ohne Farben.
Die Lebensbereiche sind gut auf die sensorischen Fähigkeiten der Bevölkerung abgestimmt und der Alltag gestaltet sich als völlig normal.
Nur dass eben der visuelle Wahrnehmungskanal nichtexistent ist.
Aber das tut der Lebensqualität keinen Abbruch, stellt auch keine existentielle Bedrohung dar.
Man hat sich damit arrangiert.

Die Frage ist nun, ob des Einäugigen Sehkraft in diesem gesellschaftlich abgesteckten Kontext eine Gabe ist oder eine Behinderung darstellt?
Wird der Einäugige zum König, zum Herdenführer gewählt aufgrund seiner “umsichtigen Gabe” oder wird er wegen seiner Andersartigkeit als Aussätziger verstoßen oder gar als halluzinierender Psychopath in eine Nervenheilanstalt eingeliefert?

Wie soll sich der Einäugige verhalten?
Soll er aufbegehren, Wahrheit verlauten?
Oder soll er sich diplomatisch den Gegebenheiten anpassen, unauffällig sein Tagwerk verrichten und tagtäglich sich selbst verleugnen, seinem Wesen, seinem angestammten Recht auf Individualität untreu sein?

höhlengleichnis_hoehlengleichnis_platon

Quelle: Radio Sai Hörer Journal

In Anlehnung an das Höhlengleichnis von Platon wollen die Blinden dem Einäugigen vielleicht keinen Glauben schenken.
Sie haben sich an die diffusen Schattenspiele in der dunklen Höhle ihrer Wahrnehmung gewöhnt, fühlen sich wohl in ihrer traulich eingerichteten Gedankenwelt und empfinden das farben- und konturengebärende Sonnenlicht als Irritation, als erschütterndes Irregulativ ihres marmorn gesockelten (und vielleicht auch stilisierten) Weltbildes.

Ihre Welt braucht keine geistigen Grenzerweiterungen.
Ihre Welt braucht keine Konturen.
Ihre Welt braucht keine Farben.