Lyrik ~ Klinge
    Versuch einer Dichtung            

2 
 Januar 
 
2013

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Lutz Görner lädt uns zu einer literarischen Reise ein

Tausend Dank an Lutz Görner für die Einstellung auf YouTube!
Eventuelle Kommentare zum Video-Clip bitte direkt auf YouTube!

 

 

Der Knabe im Moor (0:18)
Annette von Droste-Hülshoff (1797 – 1848)

O, schaurig ists übers Moor zu gehn,
Wenn es wimmelt vom Heiderauche.
Sich wie Phantome die Dünste drehn,
Und die Ranke häkelt am Strauche.
Unter jedem Tritte ein Quellchen springt,
Wenn aus der Spalte es zischt und singt.
O, schaurig ists übers Moor zu gehn,
Wenn das Röhricht knistert im Hauche!

Fest hält die Fibel das zitternde Kind
Und rennt, als ob man es jage.
Hohl über die Fläche sauset der Wind –
Was raschelt drüben am Haage?
Das ist der gespenstische Gräberknecht,
Der dem Meister die besten Torfe verzecht.
Hu, hu, es bricht wie ein irres Rind!
Hinducket das Knäblein zage.

Vom Ufer starret Gestumpf hervor.
Unheimlich nicket die Föhre.
Der Knabe rennt, gespannt das Ohr,
Durch Riesenhalme wie Speere.
Und wie es rieselt und knittert darin!
Das ist die unselge Spinnerin.
Das ist die gebannte Spinnlenor,
Die den Haspel dreht im Geröhre!

Voran, voran, nur immer im Lauf.
Voran als woll sie ihn holen!
Vor seinem Fuße brodelt es auf.
Es pfeift ihm unter den Sohlen
Wie eine gespenstige Melodei!
Das ist der Geigemann ungetreu.
Das ist der diebische Fiedler Knauf,
Der den Hochzeitheller gestohlen!

Da birst das Moor. Ein Seufzer geht
Hervor aus der klaffenden Höhle.
Weh, weh, da ruft die verdammte Margret:
»Ho, ho, meine arme Seele!«
Der Knabe springt wie ein wundes Reh
Wärn nicht Schutzengel in seiner Näh,
Seine bleichenden Knöchelchen fände spät
Ein Gräber im Moorgeschwehle.

Da mählich gründet der Boden sich.
Und drüben, neben der Weide,
Die Lampe flimmert so heimatlich.
Der Knabe steht an der Scheide.
Tief atmet er auf. Zum Moor zurück
Noch immer wirft er den scheuen Blick:
»Ja, im Geröhre wars fürchterlich.
O, schaurig wars in der Heide!«

 

 
Im Moose (3:09)
Annette von Droste-Hülshoff (1797 – 1848)

Als jüngst die Nacht dem sonnenmüden Land
Der Dämmerung leise Boten hat gesandt,
Da lag ich einsam noch in Waldes Moose.
Die dunklen Zweige nickten so vertraut.
An meiner Wange flüsterte das Kraut.
Unsichtbar duftete die Heiderose.

Und flimmern sah ich durch der Linde Raum
Ein mattes Licht, das im Gezweig der Baum
Gleich einem mächtgen Glühwurm schien zu tragen.
Es sah so dämmernd wie ein Traumgesicht
Doch wusste ich, es war der Heimat Licht,
In meiner eignen Kammer angeschlagen.

Ringsum so still, dass ich vernahm im Laub
Der Raupe Nagen. Und wie grüner Staub
Mich leise wirbelnd Blätterflöckchen trafen.
Ich lag und dachte, ach so manchem, nach.
Ich hörte meines eignen Herzens Schlag.
Fast war es mir, als sei ich schon entschlafen.

Gedanken tauchten aus Gedanken auf:
Das Kinderspiel, der frischen Jahre Lauf,
Gesichter, die mir lang nicht mehr bekannt.
Vergessne Töne summten um mein Ohr.
Und endlich trat die Gegenwart hervor.
Da ruht die Welle, wie an Ufers Rand.

Dann, gleich der Quelle, die verrinnt im Schlund
Und drüben wieder sprudelt aus dem Grund,
So stand ich plötzlich in der Zukunft Lande.
Ich sah mich selber, ganz gebückt und klein,
Geschwächten Auges, am ererbten Schrein
Sorgfältig ordnen staubge Liebespfande.

Die Bilder meiner Lieben sah ich klar,
In einer Tracht, die jetzt veraltet war.
Mich, sorgsam lösen aus verblichnen Hüllen.
Löckchen, vermorscht, zu Staub zerfallen schier.
Sah über die gefurchte Wange mir,
Langsam herab die karge Träne quillen.

Und endlich an des Friedhofs Monument,
Dran Namen standen, die mein Lieben kennt,
Da lag ich betend, mit gebrochnen Knien.
Und – horch, die Wachtel schlug! Kühl strich der Hauch –
Und noch zuletzt sah ich, gleich einem Rauch,
Mich leise in der Erde Poren ziehen.

Ich fuhr empor und schüttelte mich dann,
Wie eine, die dem Scheintod kaum entrann
Und taumelte entlang die dunklen Haage.
Nun zweifelnd, ob der Stern am Rain
Sei wirklich meiner Schlummerlampe Schein,
Oder das ewge Licht am Sarkophage.

 

 
Am Turme (7:31)
Annette von Droste-Hülshoff (1797 – 1848)

Ich steh’ auf hohem Balkone am Turm,
Umstrichen vom schreienden Stare,
Und lass’ gleich einer Mänade den Sturm
Mir wühlen im flatternden Haare;
O wilder Geselle, o toller Fant,
Ich möchte dich kräftig umschlingen,
Und, Sehne an Sehne, zwei Schritte vom Rand
Auf Tod und Leben dann ringen!

Und drunten seh’ ich am Strand, so frisch
Wie spielende Doggen, die Wellen
Sich tummeln rings mit Geklaff und Gezisch,
Und glänzende Flocken schnellen.
O, springen möcht’ ich hinein alsbald,
Recht in die tobende Meute,
Und jagen durch den korallenen Wald
Das Walroß, die lustige Beute!

Und drüben seh ich ein Wimpel wehn
So keck wie eine Standarte,
Seh auf und nieder den Kiel sich drehn
Von meiner luftigen Warte;
O, sitzen möcht’ ich im kämpfenden Schiff,
Das Steuerruder ergreifen,
Und zischend über das brandende Riff
Wie eine Seemöve streifen.

Wär’ ich ein Jäger auf freier Flur,
Ein Stück nur von einem Soldaten,
Wär’ ich ein Mann doch mindestens nur,
So würde der Himmel mir raten;
Nun muß ich sitzen so fein und klar,
Gleich einem artigen Kinde,
Und darf nur heimlich lösen mein Haar,
Und lassen es flattern im Winde!

 
 
29 
 September 
 
2012


 

 
Aus: “Wilhelm Meister”
von Johann Wolfgang von Goethe

 
Singet nicht in Trauertönen
Von der Einsamkeit der Nacht.
Nein, sie ist, o holde Schönen,
Zur Geselligkeit gemacht.

Wie das Weib dem Mann gegeben
Als die schönste Hälfte war,
Ist die Nacht das halbe Leben
Und die schönste Hälfte zwar.

Könnt ihr euch des Tages freuen,
Der nur Freuden unterbricht?
Er ist gut, sich zu zerstreuen;
Zu was anderm taugt er nicht.

Aber wenn in nächt’ger Stunde
Süsser Lampe Dämmrung fließt,
Und vom Mund zum nahen Munde
Scherz und Liebe sich ergießt;

Wenn der rasche, lose Knabe,
Der sonst wild und feurig eilt,
Oft bei einer kleinen Gabe
Unter leichten Spielen weilt;

Wenn die Nachtigall Verliebten
Liebevoll ein Liedchen singt,
Das Gefangnen und Betrübten
Nur wie Ach und Wehe klingt;

Mit wie leichtem Herzensregen
Horchet ihr der Glocke nicht,
Die mit zwölf bedächtgen Schlägen
Ruh und Sicherheit verspricht.

Darum an dem langen Tage,
Merke dir es, liebe Brust;
Jeder Tag hat seine Plage,
Und die Nacht hat ihre Lust.

 

Dichtung Johann Wolfgang von Goethe
Lesung Eva Mattes
Bereitstellung 59Berger

 
 
25 
 August 
 
2012

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DICHTUNG Paul Celan
LESUNG Paul Celan
BEREITSTELLUNG paulantschell


 

Stimmen, ins Grün
der Wasserfläche geritzt.
Wenn der Eisvogel taucht,
sirrt die Sekunde:

Was zu dir stand
an jedem der Ufer,
es tritt
gemäht in ein anderes Bild.

*

Stimmen vom Nesselweg her:

Komm auf den Händen zu uns.
Wer mit der Lampe allein ist,
hat nur die Hand, draus zu lesen.

*

Stimmen, nachtdurchwachsen, Stränge,
an die du die Glocke hängst.

Wölbe dich, Welt:
Wenn die Totenmuschel heranschwimmt,
will es hier läuten.

*
Stimmen, vor denen dein Herz
ins Herz deiner Mutter zurückweicht.
Stimmen vom Galgenbaum her,
wo Spätholz und Frühholz die Ringe
tauschen und tauschen.

*

Stimmen, kehlig, im Grus,
darin auch Unendliches schaufelt,
(herz-)
schleimiges Rinnsal.

Setz hier die Boote aus, Kind,
die ich bemannte:

Wenn mittschiffs die Bö sich ins Recht setzt,
treten die Klammern zusammen.

*

Jakobsstimme:

Die Tränen.
Die Tränen im Bruderaug.
Eine blieb hängen, wuchs.
Wir wohnen darin.
Atme, daß
sie sich löse.

*

Stimmen im Innern der Arche:

Es sind
nur die Münder
geborgen. Ihr
Sinkenden, hört
auch uns.

*

Keine
Stimme – ein
Spätgeräusch, stundenfremd, deinen
Gedanken geschenkt, hier, endlich
herbeigewacht: ein
Fruchtblatt, augengroß, tief
geritzt; es
harzt, will nicht
vernarben.