Lyrik ~ Klinge
    Versuch einer Dichtung            

10 
 Juni 
 
2015

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Lutz Görner lädt uns zu einer literarischen Reise ein
 

Irgendwie lehnt Herweghs Gedichtspassage “Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will” an mein Gedicht “Zeittakt“:

Spitzengehälter über Gebühr auf höchster Etage,
karger Mindestlohn nur für die schuftende Hand!

Während der Stunde Zeiger der ob’ren Zehntausend gemä(c)hlich
Runde um Runde umkreist, hastet des kleineren Mann
Zeiger rastlos im Zirkel allmächt’ger Bestimmung, im Gleichschritt
einer getakteten Welt: Apparatur uns’rer Zeit.

Führen die kleinen Momente nied’rer Verrichtung nicht erst die
große heroische Tat wundersam wirkend herbei?
Hemmt der Minuten Lauf im menchan’schen Getriebe doch nur, so
schlägt dem Großen auch nicht tönend die glorreiche Stund’!

Bundeslied für den Allgemeinen deutschen Arbeiterverein (3:10)
Georg Herwegh (1817 – 1875)
Mann der Arbeit, aufgewacht!
Und erkenne deine Macht!
Alle Räder stehen still,
Wenn dein starker Arm es will.

Bet und arbeit! Ruft die Welt,
Bete kurz! Denn Zeit ist Geld.
An die Türe pocht die Not –
Bete kurz! Denn Zeit ist Brot.

Und du ackerst und du säst,
Und du nietest und du nähst,
Und du hämmerst und du spinnst –
Sag, o Volk, was du gewinnst!

Mann der Arbeit, aufgewacht!
Und erkenne deine Macht!
Alle Räder stehen still,
Wenn dein starker Arm es will.

Wirkst am Webstuhl Tag und Nacht,
Schürfst im Erz- und Kohlenschacht,
Füllst des Überflusses Horn,
Füllst es hoch mit Wein und Korn.

Alles ist dein Werk! O sprich,
Alles, aber nichts für dich?
Und von allem nur allein,
Die du schmiedst, die Kette, dein?

Mann der Arbeit, aufgewacht!
Und erkenne deine Macht!
Alle Räder stehen still,
Wenn dein starker Arm es will.

Der schlimmste Feind (5:10)
Georg Herwegh (1817 – 1875)
Dies Volk, das seine Bäume wieder
Bis in den Himmel wachsen sieht
Und auf der Erde platt und bieder
Am Knechtschaftskarren weiter zieht.

Dies Volk, das auf die Weisheit dessen
Vertraut, der Ross und Reiter hält,
Und mit Ergebenheitsadressen
Frisch, fromm und fröhlich rückt ins Feld.

Es lässt gleich Kindern sich betrügen,
Bis es zu spät erkennt, o weh! –
Die Wacht am Rhein wird nicht genügen,
Der schlimmste Feind steht an der Spree.

Grabschrift (6:03)
Georg Herwegh (1817 – 1875)
Sein oder Nichtsein ist hier keine Frage.
Ich bin gewesen, was ich konnte sein:
Kein Schelm und Schuft, bei Gott ein Narr allein,
Der auch sein Lämpchen brannt am hellen Tage.

Kein Turner wie der Vater Jahn, doch auch von deutschem Schlage.
Und wär mein Vers wie meine Hände rein,
So ruhete dies dichterlich Gebein
Dereinst in einem stolzen Sarkophage.

Mir war mein Leben wie ein Würfelspiel.
Zwar hab ich manches Mal verloren,
Doch hatt ich oft des Glücks mehr als zuviel.

Und triebs, ein Tor, wie tausend andre Toren.
Doch, glücklicher als einstmals Freund Schlemihl,
Hab niemals meinen Schatten ich verloren.

 
 
27 
 August 
 
2011

abgelegt in
Elegien
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Spitzengehälter über Gebühr auf höchster Etage,
karger Mindestlohn nur für die schuftende Hand!
Während der Stunde Zeiger der ob’ren Zehntausend gemächlich
Runde um Runde umkreist, hastet des kleineren Mann
Zeiger rastlos im Zirkel allmächt’ger Bestimmung, im Gleichschritt
einer getakteten Welt: Apparatur uns’rer Zeit.

Führen die kleinen Momente nied’rer Verrichtung nicht erst die
große heroische Tat wundersam wirkend herbei?
Hemmt der Minuten Lauf im menchan’schen Getriebe doch nur, so
schlägt dem Großen auch nicht tönend die glorreiche Stund’!

 
 
9 
 Februar 
 
2008

abgelegt in
Gedankenschau

 

In der Straßenbahn

» Was guckst du so blöde? «
» Wer? Ich? «
» Ja, DU! «

» Ich schaue nicht blöde, eher gelangweilt … gelangtweilt vom hektischen Verkehrsgetriebe, von den noch hektischeren, geschäftigen und anonymen Menschenmassen, kurzum: vom mich wieder ereilten Alltag einer pulsierenden Großstadt.

Und insbesondere gelangweilt von solchen Menschen wie dir, die glauben, sie könnten sich aus dieser grauen, tristen Masse der Anonymität, der Eintönigkeit emporschwingen, indem sie durch provokante Zurufe “auf”-zufallen sich erhoffen, um dadurch in den Fokus meiner näheren Betrachtung zu gelangen, meiner sinnlichen Anteilnahme an ihrem Dasein.

Du könntest auch deine sicherlich gesprächigeren Fäuste reden lassen, das würde mir auch keinen spürbaren Reiz zuführen, der mich aufhorchen ließe.
Auch über dich hat sich der graue Schleier der Anonymität gelegt, bist eins mit der leblosen Objektwelt um mich geworden, die in gefühlserkalteter Manier selbstgefällig sich nur selbst meint.

Wieso sollte ich dich -in alles in der Welt- also “blöde angucken”?

Ich schaue dich nämlich NICHT an, mein Blick ist nach innen gewandt und lediglich mein Kopf wendete sich in die Richtung, in der du vor gut zwei Haltestationen Platz genommen hast.

Du hättest dich auch woanders hinsetzen können.
Zur alten Dame mit ihrem Schoßhündchen, zum Beispiel.
Zum zeitungslesenden Geschäftsmann.
Zu den lärmenden Schulkindern.
Oder einfach -stehend- neben den Fahrkarten-Entwerter.

Aber NEIN, DU musstest ja dich unbedingt mir gegenüber hinsetzen.
Einfach so. Rein zufällig.

 
Natürlich könnte ich meinen gedankenversunkenen Blick auch aus dem Fenster richten.
Oder zur alten Dame mit ihrem Schoßhündchen.
Zum zeitungslesenden Geschäftsmann.
Zu den lärmenden Schulkindern.
Oder einfach nur auf den Fahrkarten-Entwerter.

Aber NEIN, ICH wendete meinen Kopf, und NUR meinen Kopf, dir zu.
Einfach so. Rein zufällig. «