Lyrik ~ Klinge
    Versuch einer Dichtung            

6 
 Juli 
 
2016


 

Lutz Görner lädt uns zu einer literarischen Reise ein

 

Der Rabe (1:23)
Edgar Allan Poe (1799– 1853)
Einst in dunkler Nacht voll Schauer sann ich angefüllt mit Trauer
Über manche lang verschollne Kunde in den Büchern schwer.
Als in Halbschlaf ich gefallen, drang im Traum zu mir ein Schallen,
Von der Türe her ein Hallen, so als klopfte irgendwer.
»Pocht so spät noch irgend jemand?« gähnte ich, »so spät noch – wer?
Ein Besucher, sonst nichts mehr.«

Wenn ich recht erinnre, war es in dem bleichen Rest des Jahres.
Geisternd kam ein sonderbares Flackern vom Kamine her.
Tief ersehnte ich den Morgen, denn umsonst wars, Trost zu borgen
Aus den Büchern für mein Sorgen. Denn mir war das Herz so sehr
Um Lenore, die Geliebte, traurig, bitter, kalt und schwer –
Ach, hier lebt sie nun nicht mehr.

Mutig mich vom Stuhl erhob ich und zurück den Riegel schob ich:
Schreckensvolle Bilder sehend, die kein Mensch gesehn vorher.
Doch es herrschte ungebrochen Schweigen, aus dem Dunkel krochen
Keine Zeichen, und gesprochen ward von mir nur ein Wort – schwer:
Nur: »Lenore?« – und ’Lenore’ scholl das Echo zu mir her –
Dieses Wort nur, sonst nichts mehr.

Ich ging drauf zurück ins Zimmer, doch mein Herz erschrak noch schlimmer,
Weil ich wieder Klopfen hörte, ungestümer als vorher.
»Sollt ich«, sprach ich, »mich nicht irren, hört ichs jetzt vom Fenster klirren.
Oh, ich werde bald entwirren, was des Rätsels Lösung wär.
Still mein Herz, noch eine Weile, dass ich mir das Ding erklär! –
Wind, der pocht und – sonst nichts mehr!«

Hastig stieß ich auf das Fenster. Flatternd kam herein ein ernster,
Stattlich großer, schwarzer Rabe wie aus alten Sagen schwer.
Ohne eines Grußes Zeichen sah ich ihn den Raum durchstreichen.
Würdevoll wie seinesgleichen, flog er durch die Kammer quer
Schnurstracks auf die Pallasbüste über meiner Türe her.
Setzte sich und – sonst nichts mehr.

Doch das würdige Gebaren dieses schwarzen Sonderbaren
Wie er auf der Büste thronte, das erheiterte mich sehr.
»Rabe, schwärzer noch als Mohren, sprich, was hast du hier verloren?
Niemand hat dich herbeschworen aus dem Reich am Nebelmeer.
Tu mir kund, wie heißt du, Stolzer aus der Toten Geisterheer!«
Sprach der Rabe: »Nimmermehr!«

Wie ein Mensch sprach er verständlich – ich erstaunte drob unendlich,
Dass er Antwort mir erteilte, wenn auch klug nicht allzu sehr.
Und ich dachte ganz beklommen: »Hat man jemals es vernommen,
Dass ein Rabe angekommen in der Nacht von ungefähr
Und auf einer Büste thronend, unbeweglich so wie der
Mit dem Namen: Nimmermehr?«

Grübelnd an den Sinn verloren, den dies ’Nimmermehr’ beschworen,
Fühlte ich des finstren Toren Feuerblick im Herzen schwer.
Auf dem samtnen Sofa liegend, dachte ich, nach vorn mich biegend
Und im fahlen Lichte wiegend mit verzehrender Begehr:
»Hier bei mir auf diesen Kissen ruht Lenore nimmermehr,
Nimmer, nimmer, nimmermehr!«

»Ob der Rabe tilgt die Zweifel, mir Prophet oder mir Teufel,
Über Leonore droben, nach der ich mich so verzehr?
Sag! Schließ ich am Sternentore in die Arme einst Lenore?
Ewige Musik im Ohre? Frei von irdischer Beschwer?
Finde ich, die ich verloren, diesen Engel, hell und hehr?«
Sprach der Rabe: »Nimmermehr!«

Und nun war ich wie von Sinnen: »Hebe dich, du Feind, von hinnen,
Satansrabe, voller Tücke, fort ins Reich am Nebelmeer!
Deine Macht will ich dir brechen, deine Lügen, diese frechen,
Wollen mir das Herz zerstechen mit dem Schnabel scharf wie Speer!
Schere dich von meiner Türe! Schwinde ohne Wiederkehr!«
Sprach der Rabe: »Nimmermehr!«

Er bewegt nicht einen Flügel, sitzt dort wie auf einem Hügel
Immer auf der Kammertür, droht mir durch sein Schweigen schwer.
Seine Augen träumen trunken wie Dämonen traumversunken.
Mir zu Füßen hingesunken, zeigt sein Schatten zu mir her,
Meine Seele ist gefangen in dem Raume um mich her.
Wird sie frei sein? – Nimmermehr

 
 
10 
 Juni 
 
2015

Schlagwörter

0

 

 
Lutz Görner lädt uns zu einer literarischen Reise ein
 

Irgendwie lehnt Herweghs Gedichtspassage “Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will” an mein Gedicht “Zeittakt“:

Spitzengehälter über Gebühr auf höchster Etage,
karger Mindestlohn nur für die schuftende Hand!

Während der Stunde Zeiger der ob’ren Zehntausend gemä(c)hlich
Runde um Runde umkreist, hastet des kleineren Mann
Zeiger rastlos im Zirkel allmächt’ger Bestimmung, im Gleichschritt
einer getakteten Welt: Apparatur uns’rer Zeit.

Führen die kleinen Momente nied’rer Verrichtung nicht erst die
große heroische Tat wundersam wirkend herbei?
Hemmt der Minuten Lauf im menchan’schen Getriebe doch nur, so
schlägt dem Großen auch nicht tönend die glorreiche Stund’!

Bundeslied für den Allgemeinen deutschen Arbeiterverein (3:10)
Georg Herwegh (1817 – 1875)
Mann der Arbeit, aufgewacht!
Und erkenne deine Macht!
Alle Räder stehen still,
Wenn dein starker Arm es will.

Bet und arbeit! Ruft die Welt,
Bete kurz! Denn Zeit ist Geld.
An die Türe pocht die Not –
Bete kurz! Denn Zeit ist Brot.

Und du ackerst und du säst,
Und du nietest und du nähst,
Und du hämmerst und du spinnst –
Sag, o Volk, was du gewinnst!

Mann der Arbeit, aufgewacht!
Und erkenne deine Macht!
Alle Räder stehen still,
Wenn dein starker Arm es will.

Wirkst am Webstuhl Tag und Nacht,
Schürfst im Erz- und Kohlenschacht,
Füllst des Überflusses Horn,
Füllst es hoch mit Wein und Korn.

Alles ist dein Werk! O sprich,
Alles, aber nichts für dich?
Und von allem nur allein,
Die du schmiedst, die Kette, dein?

Mann der Arbeit, aufgewacht!
Und erkenne deine Macht!
Alle Räder stehen still,
Wenn dein starker Arm es will.

Der schlimmste Feind (5:10)
Georg Herwegh (1817 – 1875)
Dies Volk, das seine Bäume wieder
Bis in den Himmel wachsen sieht
Und auf der Erde platt und bieder
Am Knechtschaftskarren weiter zieht.

Dies Volk, das auf die Weisheit dessen
Vertraut, der Ross und Reiter hält,
Und mit Ergebenheitsadressen
Frisch, fromm und fröhlich rückt ins Feld.

Es lässt gleich Kindern sich betrügen,
Bis es zu spät erkennt, o weh! –
Die Wacht am Rhein wird nicht genügen,
Der schlimmste Feind steht an der Spree.

Grabschrift (6:03)
Georg Herwegh (1817 – 1875)
Sein oder Nichtsein ist hier keine Frage.
Ich bin gewesen, was ich konnte sein:
Kein Schelm und Schuft, bei Gott ein Narr allein,
Der auch sein Lämpchen brannt am hellen Tage.

Kein Turner wie der Vater Jahn, doch auch von deutschem Schlage.
Und wär mein Vers wie meine Hände rein,
So ruhete dies dichterlich Gebein
Dereinst in einem stolzen Sarkophage.

Mir war mein Leben wie ein Würfelspiel.
Zwar hab ich manches Mal verloren,
Doch hatt ich oft des Glücks mehr als zuviel.

Und triebs, ein Tor, wie tausend andre Toren.
Doch, glücklicher als einstmals Freund Schlemihl,
Hab niemals meinen Schatten ich verloren.

 
 
29 
 Dezember 
 
2012

Schlagwörter

0

 
Lutz Görner lädt uns zu einer literarischen Reise ein

Tausend Dank an Lutz Görner für die Einstellung auf YouTube!
Eventuelle Kommentare zum Video-Clip bitte direkt auf YouTube!

 

 

Unruhe (6:45)
Annette von Droste-Hülshoff (1797 – 1848)

Ich will hier ein wenig ruhn am Strande.
Sonnenstrahlen spielen auf dem Meere.
Seh ich doch der Wimpel weiße Heere.
Viele Schiffe ziehn zum fernen Lande.

Oh, ich möchte wie ein Vogel fliehen!
Mit den hellen Wimpeln möcht ich ziehen!
Weit, o weit, wo noch kein Fußtritt schallte,
Keines Menschen Stimme wiederhallte,
Noch kein Schiff durchschnitt die flüchtige Bahn!

Und noch weiter, endlos, ewig neu
Mich durch fremde Schöpfungen, voll Lust,
Hinzuschwingen fessellos und frei!
Oh, das pocht, das glüht in meiner Brust!
Rastlos treibts mich um im engen Leben.
Freiheit heißt der Seele banges Streben,
Und im Busen tönts Unendlichkeit!

Fesseln will man mich am eignen Herde!
Meine Sehnsucht nennt man Wahn und Traum.
Und mein Herz, dies kleine Klümpchen Erde,
Hat doch für die ganze Schöpfung Raum!

Doch stille, still, mein töricht Herz!
Willst vergebens du dich sehnen?
Aus lauter Vergeblichkeit hadernde Tränen
Ewig vergießen in fruchtlosem Schmerz?
Sei ruhig, Herz, und lerne dich bescheiden.

So will ich heim vom feuchten Strande kehren.
Hier zu weilen, tut nicht wohl.
Meine Träume drücken schwer mich nieder.
Und die alte Unruh kehret wieder.
Ich muß heim vom feuchten Strande kehren.
Wandrer auf den Wogen, fahret wohl!

Fesseln will man uns am eignen Herde!
Unsre Sehnsucht nennt man Wahn und Traum
Und das Herz, dies kleine Klümpchen Erde
Hat doch für die ganze Schöpfung Raum!