Lyrik ~ Klinge
    Versuch einer Dichtung            

31 
 Juli 
 
2011


 

Schwester von dem ersten Licht,
Bild der Zärtlichkeit in Trauer!
Nebel schwimmt mit Silberschauer
Um Dein reizendes Gesicht;
Deines leisen Fußes Lauf
Weckt aus tagverschlossnen Höhlen
Traurig abgeschiedne Seelen,
Mich und nächt’ge Vögel auf.

Forschend übersieht Dein Blick
Eine großgemessne Weite.
Hebe mich an Deine Seite!
Gib der Schwärmerei dies Glück!
Und in wolllustvoller Ruh’
Säh’ der weitverschlagne Ritter
Durch das gläserne Gegitter
Seines Mädchens Nächten zu.

Dämmrung, wo die Wollust thront,
Schwimmt um ihre runden Glieder.
Trunken sinkt mein Blick hernieder.
Was verhüllt man wohl dem Mond?
Doch was das für Wünsche sind!
Voll Begierde zu genießen,
So da droben hängen müssen;
Ei, da schieltest du dich blind.

 
 
1 
 Juli 
 
2011


 

Der Gott und die Bajadere
Indische Legende

 
Mahadöh, der Herr der Erde,
kommt herab zum sechsten Mal,
dass er unsers Gleichen werde,
mitzufühlen Freud und Qual.

Er bequemt sich, hier zu wohnen,
lässt sich alles selbst geschehn;
soll er strafen oder schonen,
muss er Menschen menschlich sehn.
Und hat er die Stadt sich als Wandrer betrachtet,
die Großen belauert, auf Kleine geachtet,
verlässt er sie abends, um weiter zu gehn.

Als er nun hinaus gegangen,
wo die letzten Häuser sind,
sieht er, mit gemalten Wangen,
ein verlornes schönes Kind:
“Grüß dich, Jungfrau!” – “Dank der Ehre!”
Wart’, ich komme gleich hinaus -”
“Und wer bist du?” – “Bajadere,
und dies ist der Liebe Haus.”

Sie rührt sich, die Zimbeln zum Tanze zu schlagen;
sie weiß sich so lieblich im Kreise zu tragen,
sie neigt sich und biegt sich und reicht ihm den Strauß.
Schmeichelnd zieht sie ihn zur Schwelle,
lebhaft ihn ins Haus hinein.

“Schöner Jüngling, lampenhelle
soll sogleich die Hütte sein.
Bist du müd’, ich will dich laben,
lindern deiner Füße Schmerz.
Was du willst, das sollst du haben,
Ruhe, Freuden oder Scherz.”

Sie lindert geschäftig geheuchelte Leiden.
Der Göttliche lächelt; er siehet mit Freuden
durch tiefes Verderben ein menschliches Herz.

Und er fordert Sklavendienste;
immer heitrer wird sie nur,
und des Mädchens frühe Künste
werden nach und nach Natur.

Und so stellet auf die Blüte
bald und bald die Frucht sich ein;
ist Gehorsam im Gemüte,
wird nicht fern die Liebe sein.

Aber, sie schärfer und schärfer zu prüfen,
wählet der Kenner der Höhen und Tiefen
Lust und Entsetzen und grimmige Pein.

Und er küsst die bunten Wangen,
und sie fühlt der Liebe Qual,
und das Mädchen steht gefangen,
und sie weint zum erstenmal;
sinkt zu seinen Füßen nieder,
nicht um Wollust noch Gewinnst.
Ach! die gelenken Glieder,
Sie versagen allen Dienst.

Und so zu des Lagers vergnüglicher Feier
bereiten den dunklen behaglichen Schleier
die nächtlichen Stunden, das schöne Gespinst.

Spät entschlummert unter Scherzen,
früh erwacht nach kurzer Rast,
findet sie an ihrem Herzen
tot den vielgeliebten Gast.

Schreiend stürzt sie auf ihn nieder,
aber nicht erweckt sie ihn,
und man trägt die starren Glieder
bald zur Flammengrube hin.

Sie höret die Priester, die Totengesänge,
sie raset und rennet und teilet die Menge.
“Wer bist du? was drängt zu der Grube dich hin?”

Bei der Bahre stürzt sie nieder,
Ihr Geschrei durchdringt die Luft:
“Meinen Gatten will ich wieder!
Und ich such ihn in der Gruft.
Soll zu Asche mir zerfallen
dieser Glieder Götterpracht?
Mein! er war es, mein vor allen!
Ach, nur eine süße Nacht!”

Es singen die Priester: “Wir tragen die Alten,
nach langem Ermatten und spätem Erkalten,
wir tragen die Jugend, noch eh sie’s gedacht.

Höre deiner Priester Lehre:
Dieser war dein Gatte nicht.
Lebst du doch als Bajadere,
und so hast du keine Pflicht.

Nur dem Körper folgt der Schatten
in das stille Totenreich;
nur die Gattin folgt dem Gatten:
Das ist Pflicht und Ruhm zugleich!
Ertöne, Trommete, zu heiliger Klage!
Oh nehmet, ihr Götter, die Zierde der Tage,
oh nehmet den Jüngling in Flammen zu euch!”

So das Chor, das ohn’ Erbarmen
mehret ihres Herzens Not;
und mit ausgestreckten Armen
springt sie in den heißen Tod.

Doch der Götterjüngling hebet
aus der Flamme sich empor
und in seinen Armen schwebet
die Geliebte mit hervor.

Es freut sich die Gottheit der reuigen Sünder;
Unsterbliche heben verlorene Kinder
mit feurigen Armen zum Himmel empor.

 

Dichtung Johann Wolfgang von Goethe
Lesung Gert Westphal
Bereitstellung wortlover