Lyrik ~ Klinge
    Versuch einer Dichtung            

28 
 Dezember 
 
2017

abgelegt in
Tucholsky, Kurt

 

DICHTUNG Kurt Tucholsky
LESUNG Stefan Kaminski


 

»Wat denn? Wat denn? Zwei Weihnachtsmänner?«

»Machen Sie hier nich sonen Krach, Siiie! Is hier vier Tage im Hümmel, als Hilfsengel – und riskiert hier schon ne Lippe.«

»Verzeihen Sie, Herr Oberengel. Aber man wird doch noch fragen dürfen?«

»Dann fragen Sie leise. Sie sehn doch, dass die beiden Herren zu tun haben. Sie packen.«

»Ja, das sehe ich. Aber wenn Herr Oberengel gütigst verzeihen wollen: woso zwei? Wir hatten auf Schule jelernt: et jibt einen Weihnachtsmann und fertig.«

»Einen Weihnachtsmann und fertig … ! Einen Weihnachtsmann und fertig … ! Diese Berliner! So ist das hier nicht! Das sind ambivalente Weihnachtsmänner!«

»Büttaschön?«

»Ambi … ach so, Fremdwörter verstehen Sie nicht. Ich wer Sie mal für vierzehn Tage rüber in den Soziologenhimmel versetzen – halt, oder noch besser, zu den Kunsthistorikern … da wem Sie schon … Ja, dies sind also … diese Weihnachtsmänner – das hat der liebe Gott in diesem Jahre frisch eingerichtet. Sie ergänzen sich, sie heben sich gegenseitig auf … «

»Wat hehm die sich jejenseitich auf? Die Pakete?«

»Wissen Sie … da sagen die Leute immer, ihr Berliner wärt so furchtbar schlau – aber Ihre Frau Mama ist zwecks Ihrer Geburt mit Ihnen wohl in die Vororte gefahren … ! Die Weihnachtsmänner sind doppelseitig – das wird er wieder nicht richtig verstehen – die Weihnachtsmänner sind polare Gegensätze.«

»Aha. Wejen die Kälte.«

»Himmel … wo ist denn der Fluch-Napf … ! Also ich werde Ihnen das erklären! Jetzt passen Sie gut auf: Die Leute beten doch allerhand und wünschen sich zu Weihnachten so allerhand. Daraufhin hat der liebe Gott mit uns Engeln sowie auch mit den zuständigen Heiligen beraten: Wenn man das den Leuten alles erfüllt, dann gibt es ein Malheur. Immer. Denn was wünschen sie sich? Sie wünschen sich grade in der letzten Zeit so verd … so vorwiegend radikale Sachen. Einer will das Hakenkreuz. Einer will Diktatur. Einer will Diktatur mitm kleinen Schuß; einer will Demokratie mit Schlafsofa; eine will einen Hausfreund; eine will eine häusliche Freundin … ein Reich will noch mehr Grenzen; ein Land will überhaupt keine Grenzen mehr; ein Kontinent will alle Kriegsschulden bezahlen, einer will … «

»Ich weiß schon. Ich jehöre zu den andern.«

»Unterbrechen Sie nicht. Kurz und gut: das kann man so nicht erfüllen. Erfüllt man aber nicht … «

»Ich weiß schon. Dann besetzen sie die Ruhr.«

»Sie sollen mich nicht immer unterbrechen! Erfüllen wir nicht – also: erfüllt der liebe Gott nicht, dann sind die Leute auch nicht zufrieden und kündigen das Abonnement. Was tun?«

»Eine Konferenz einberufen. Ein Exposé schreiben. Mal telefonieren. Den Sozius … «

»Wir sind hier nicht in Berlin, Herrr! Wir sind im Himmel. Und eben wegen dieser dargestellten Umstände haben wir jetzt zwei Weihnachtsmänner!«

»Und … was machen die?«

»Weihnachtsmann A erfüllt den Wunsch. Weihnachtsmann B bringt das Gegenteil. Zum Exempel:

Onkel Baldrian wünscht sich zu Weihnachten gute Gesundheit. Wird geliefert. Damit die Ärzte aber nicht verhungern, passen wir gut auf; Professor Dr. Speculus will auch leben. Also kriegt er seinen Wunsch erfüllt, und der reiche Onkel Baldrian ist jetzt mächtig gesund, hat eine eingebildete Krankheit und zahlt den Professor. Oder:

Die Nazis wünschen sich einen großen Führer. Kriegen sie: ein Hitlerbild. Der Gegenteil-Weihnachtsmann bringt dann das Gegenteil: Hitler selber.

Herr Merkantini möchte sich reich verheiraten. Bewilligt. Damit aber die Gefühle nicht rosten, bringt ihm der andere Weihnachtsmann eine prima Freundin. Oder: Weihnachtsmann A bringt dem deutschen Volke den gesunden Menschenverstand – Weihnachtsmann B die Presse. Weihnachtsmann A gab Italien die schöne Natur – Weihnachtsmann B: Mussolini. Ein Dichter wünscht sich gute Kritiken: kriegt er. Dafür kauft kein Aas sein Buch mehr. Die deutsche Regierung wünscht Sparmaßnahmen – schicken wir. Der andere Weihnachtsmann bringt dann einen kleinen Panzerkreuzer mit.

Sehn Sie – auf diese Weise kriegt jeder sein Teil. Haben Sie das nun verstanden?«

»Allemal. Da möcht ich denn auch einen kleinen Wunsch äußern. Ich möchte gern im Himmel bleiben und alle Nachmittag von 4 bis 6 in der Hölle Bridge spielen.«

»Tragen Sie sich in das Wunschbuch der Herren ein. Aber stören Sie sie nicht beim Packen – die Sache eilt.«

»Und … verzeihen Sie … wie machen Sie das mit der Börse –?«

»So viel Weihnachtsmänner gibt es nicht. Herr – so viel Weihnachtsmänner gibts gar nicht –!«

Peter Panter
Simplicissimus, 15.12.1930, S. 446.

 
 
7 
 August 
 
2017

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INTERPRETATION Christoph Hackenberg
QUELLE zeno.org



 

[205]
Willst Du zur Ruhe kommen, flieh, o Freund,
Die ärgste Feindin, die Persönlichkeit!
Sie täuschet Dich mit Nebelträumen, engt
Dir Geist und Herz und quält mit Sorgen Dich,
Vergiftet Dir das Blut und raubet Dir
Den freien Athem, daß Du, in Dir selbst
Verdorrend, dumpf erstickst von eigner Luft.
Sag an: was ist in Dir Persönlichkeit?

Als in der Mutter Schooß von Zweien Du
Das Leben nahmst und, unbewußt Dir selbst,
An fremdem Herzen, eine Pflanze, hingst,
Zum Thier gediehest und ein Menschenkind
(So saget man) die Welt erblicktest: Du
Erblicktest sie noch nicht; sie sahe Dich,
Von Deiner Mutter lange noch ein Theil,
Der ihren Athem, ihre Küsse trank
Und an dem Lebensquell, an ihrer Brust,
Empfindung lernete. Sie trennte Dich
Allmählig von der Mutter, eignete
In tausend der Gestalten Dir sich zu,
In tausend der Gefühle Dich ihr zu,
Den immer Neuen, immer Wechselnden.
Wie wuchs das Kind? Es strebte Fuß und Hand
Und Ohr und Auge spähend, immer neu
Zu formen sich. Und so gediehest Du
Zum Knaben, Jünglinge, zum Mann und Greis.
Im Jünglinge, was war vom Kinde noch?
Was war im Knaben schon vom Greis und Mann?

Mit jedem Alter tauschtest Du Dich um;
Kein Theil des Körpers war derselbe mehr.
Du täuschtest Dich mit Dir; Dein Spiegel selbst
Enthüllte Dir ein andres, neues Bild.

[205]
Verlangtest Du, ein Jüngling, nach der Brust
Der Mutter? Als die Liebe Dich ergriff,
Sahst Du die Braut wie Deine Schwester an?
Und als der Traum der Ehre fort Dich riß,
Verlangtest in die Windeln Du zurück?
Schmeckt Dir die Zuckerbirne, wie sie Dir,
Dem Kinde, schmeckte? Und die innre Welt
Der Regungen, der lichten Phantasei,
Des Anblicks aller Dinge, ist sie noch
Dieselbe Dir, wie sie dem Knaben war?

Ermanne Dich! Das Leben ist ein Strom
Von wechselnden Gestalten. Welle treibt
Die Welle, die sie hebet und begräbt.
Derselbe Strom, und keinen Augenblick,
An keinem Ort, in keinem Tropfen mehr
Derselbe, von der Quelle bis zum Meer.

Und solch ein Trugbild soll Dir Grundgebäu
Von Deiner Pflicht und Hoffnung, Deinem Glück
Und Unglück sein? Auf einen Schatten willst
Du stützen Dich? und einer Wahngestalt
Gedanken, Wirkung, Zweck des Lebens weihn?
Ermanne Dich! Nein, Du gehörst nicht Dir;
Dem großen, guten All gehörest Du.
Du hast von ihm empfangen und empfängst;
Du mußt ihm geben, nicht das Deine nur,
Dich selbst, Dich selbst; denn sieh, Du liegst, ein Kind,
Ein ewig Kind, an dieser Mutter Brust
Und hangst an ihrem Herzen. Abgetrennt
Von allem Lebenden, was Dich umgab
Und noch umgiebt, Dich nähret und erquickt,

Was wärest Du? Kein Ich. Ein jeder Tropf
In Deinem Lebenssaft, in Deinem Blut
Ein jedes Kügelchen, in Deinem Geist
Und Herzen jeder regende Gedank’,
Und Fertigkeit, Gewöhnung, Schluß und That
(Ein Triebwerk, das Du übend selbst nicht kennst),

Jedwedes Wort der Lippe, jeder Zug
Des Angesichtes ist ein fremdes Gut,
Dir angeeignet, doch nur zum Gebrauch.
So, immer wechselnd, stets verändert, schleicht

[206]
Der Eigner fremden Gutes durch die Welt.
Er leget Kleider und Gewohnheit ab,
Verändert Sprache, Sitten, Meinungen,
Wie sie der Zeiten rastlos gehnder Schritt
Ihm aufdringt, wie die große Mutter ihm
In ihrem Schooße bildet Herz und Haupt.
Was ist von Deinen zehentausenden
Gedanken Dein? Das Reich der Genien,
Ein großer untheilbarer Ocean,
Als Strom und Tropfe floß er auch in Dich
Und bildete Dein Eigenstes. Was ist
Von Deinen zehen-zehentausenden
Empfindungen das Deine? Lieb’ und Noth,
Nachahmung und Gewohnheit, Zeit und Raum,
Verdruß und Langeweile haben Dir
Es angeformt und angegossen, daß
In Deinem Leim Du neu es formen sollst
Fürs große, gute, ja fürs bessre All. –

Dahin strebt jegliche Begier, dahin
Jedweder Trieb der lebenden Natur,
Verlangen, Wunsch und Sehnen, Thätigkeit
Und Neugier und Bewunderung und Braut-
Und Mutterliebe, daß vom innern Keim
Die Knospe sich zur Blum’ entfalt’ und einst
Die Blum’ in tausend Früchten wieder blüh’.
Den großen Wandelgang des ew’gen Alls
Befördert Luft und Sonne, Nacht und Tag.
Das Ich erstirbt, damit das Ganze sei.
Was ist’s, das Du mit Deinem armen Ich
Der Nachwelt hinterlässest? Deinen Namen?
Und hieß’ er Raphael: an Raphael’s
Gemälden selbst vergess’ ich gern den Mann
Und ruf’ entzückt: »Ein Engel hat’s gemalt.«

Dein Ich? Wie lange kann und wird es denn
Die Nachwelt nennen? Und am Namen liegt’s?
So nennet sie mit Dir auch Mävius
Und Bavus, Stax und Nero-Herostrat.

[207]
Nur wenn, uneingedenk des engen Ichs,
Dein Geist in allen Seelen lebt, Dein Herz
In tausend Herzen schläget, dann bist Du
Ein Ewiger, Allwirkender, ein Gott,
Und ach, wie Gott, unsichtbar-namenlos.
Persönlichkeit, die man den Werken eindrückt,
Die kleinliche, vertilgt im besten Werk
Den allgemeinen, ew’gen Genius,
Das große Leben der Unsterblichkeit.

So lasset denn im Wirken und Gemüth
Das Ich uns mildern, daß das bessre Du
Und Er und Wir und Ihr und Sie es sanft
Auslöschen und uns von der bösen Unart
Des harten Ichs unmerklich sanft befrein!
In allen Pflichten sei uns erste Pflicht
Vergessenheit sein selber! So geräth
Uns unser Werk, und süß ist jede That,
Die uns dem trägen Stolz entnimmt, uns frei
Und groß und ewig und allwirkend macht.
Verschlungen in ein weites Labyrinth
Der Strebenden, sei unser Geist ein Ton
Im Chorgesang der Schöpfung, unser Herz
Ein lebend Rad im Werke der Natur!

Wenn einst mein Genius die Fackel senkt,
So bitt’ ich ihn vielleicht um Manches, nur
Nicht um mein Ich. Was schenkt er mir damit?
Das Kind? den Jüngling? oder gar den Greis?
Verblühet sind sie, und ich trinke froh
Die Schale Lethens. Mein Elysium
Soll kein vergangner Traum von Mißgeschick
Und kleinem krüpplichten Verdienst entweihn.

Den Göttern weih’ ich mich, wie Decius,
Mit tiefem Dank und unermeßlichem
Vertrauen auf die reich belohnende,
Vielkeimige, verjüngende Natur.
Ich hab’ ihr wahrlich etwas Kleineres
Zu geben nicht, als was sie selbst mir gab
Und ich von ihr erwarb, mein armes Ich.

 
 
2 
 Juli 
 
2017

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DICHTUNG Friedrich Hölderlin
LESUNG Roger Willemsen
BEREITSTELLUNG always poet


 

Der Jüngling an die klugen Ratgeber

Ich sollte ruhn? Ich soll die Liebe zwingen,
Die feurigfroh nach hoher Schöne strebt?
Ich soll mein Schwanenlied am Grabe singen,
Wo ihr so gern lebendig uns begräbt?
O schonet mein! Allmächtig fortgezogen,
Muß immerhin des Lebens frische Flut
Mit Ungeduld im engen Bette wogen,
Bis sie im heimatlichen Meere ruht.

Des Weins Gewächs verschmäht die kühlen Tale,
Hesperiens beglückter Garten bringt
Die goldnen Früchte nur im heißen Strahle,
Der, wie ein Pfeil, ins Herz der Erde dringt.
Was sänftiget ihr dann, wenn in den Ketten
Der ehrnen Zeit die Seele mir entbrennt,
Was nimmt ihr mir, den nur die Kämpfe retten,
Ihr Weichlinge! mein glühend Element?

Das Leben ist zum Tode nicht erkoren,
Zum Schlafe nicht der Gott, der uns entflammt,
Zum Joch ist nicht der Herrliche geboren,
Der Genius, der aus dem Aether stammt;
Er kommt herab; er taucht sich, wie zum Bade,
In des Jahrhunderts Strom und glücklich raubt
Auf eine Zeit den Schwimmer die Najade,
Doch hebt er heitrer bald sein leuchtend Haupt.

Drum laßt die Lust, das Große zu verderben,
Und geht und sprecht von eurem Glücke nicht!
Pflanzt keinen Zedernbaum in eure Scherben!
Nimmt keinen Geist in eure Söldnerspflicht!
Versucht es nicht, das Sonnenroß zu lähmen!
Laßt immerhin den Sternen ihre Bahn!
Und mir, mir ratet nicht, mich zu bequemen,
Und macht mich nicht den Knechten untertan.

Und könnt ihr ja das Schöne nicht ertragen,
So führt den Krieg mit offner Kraft und Tat!
Sonst ward der Schwärmer doch ans Kreuz geschlagen,
Jetzt mordet ihn der sanfte kluge Rat;
Wie manchen habt ihr herrlich zubereitet
Fürs Reich der Not! wie oft auf euern Sand
Den hoffnungsfrohen Steuermann verleitet
Auf kühner Fahrt ins warme Morgenland!

Umsonst! mich hält die dürre Zeit vergebens,
Und mein Jahrhundert ist mir Züchtigung;
Ich sehne mich ins grüne Feld des Lebens
Und in den Himmel der Begeisterung;
Begrabt sie nur, ihr Toten, eure Toten,
Und preist das Menschenwerk und scheltet nur!
Doch reift in mir, so wie mein Herz geboten,
Die schöne, die lebendige Natur.