Lyrik ~ Klinge
    Versuch einer Dichtung            

11 
 März 
 
2023

abgelegt in
Eich, Günter

 

DICHTUNG Günter Eich
LESUNG Rolf Illig


 

Die Hausgenossen (Auszug)

Was mir am meisten auf der Welt zuwider ist, sind meine Eltern.
Wo ich auch hingehe, sie verfolgen mich, da nützt kein Umzug,
kein Ausland.

Kaum habe ich einen Stuhl gefunden, öffnet sich die Tür
und einer von beiden starrt herein, Vater Staat oder Mutter Natur.

Ich werfe einen Federhalter, ganz umsonst.
Sie tuscheln miteinander, sie verstehen sich.

In der Küche sitzt der Haushalt: bleich, hager und verängstigt.
Er ist auch ekelhaft, manchmal tut er mir leid.
Er ist nicht mit mir verwandt, ist aber nicht wegzubringen.

Eine halbe Stunde habe ich Freude an Literatur.
“Die Kinks”, denke ich, “sind soviel besser als die Dave Clark Five.”
Aber plötzlich kommt sie wieder, mit blutverschmiertem Mund,
und zeigt mir ihr neues Modell.
“Alles zweigeteilt!”, sagt sie, “Ein Stilprinzip, Männchen und Weibchen.”
“Fällt dir nichts besseres ein?”, frage ich.
“Tu nicht so, alter Junge!”, sagt sie.
“Hier, die Gottesanbeterin! Während sein Hinterleib sie begattet,
frißt sie seinen Vorderleib.”
“Pfui Teufel, Mama,”, sage ich, “du bist unappetitlich!”
“Aber die Sonnenuntergänge”, kichert sie.

Ich versuche mich zu beruhigen und will meine Bakunin-Biographie
um ein paar Zeilen weiter treiben.

“Da hat sich der Marx aber ganz schön fertig gemacht,
Michael Alexandrowitsch”, sage ich laut und schon steht Papa im
Zimmer. Er fieselt an einem Rekrutenknochen.

Ich ziehe unter seinem misstrauischen Blick den Staatsanzeiger
über mein Manuskript.
“Du singst zu wenig!”, sagte er und ich merke erst,
als er wieder draußen ist, daß er mein Portemonnaie
mitgenommen hat.

In der Küche weint der Haushalt ohne Hemmung.

Ich mache die Augen zu, stopfe mir die Finger in die Ohren…
Mit Recht!

 
 
18 
 April 
 
2022

abgelegt in
Eich, Günter

 

DICHTUNG Günter Eich
LESUNG Günter Eich


 

Die Häherfeder

Ich bin, wo der Eichelhäher
zwischen den Zweigen streicht,
einem Geheimnis näher,
das nicht ins Bewusstsein reicht.

Es preßt mir Herz und Lunge,
nimmt jäh mir den Atem fort,
es liegt mir auf der Zunge,
doch gibt es dafür kein Wort.
Ich weiß nicht, welches der Dinge
oder ob es der Wind enthält.
Das Rauschen der Vogelschwinge,
begreift es den Sinn der Welt?

Der Häher warf seine blaue
Feder in den Sand.
Sie liegt wie eine schlaue
Antwort in meiner Hand.

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Sprecher: Rolf Illig