Lyrik ~ Klinge
    Versuch einer Dichtung            

30 
 September 
 
2012


 

DICHTUNG Ingeborg Bachmann
LESUNG Christian Brückner
BEREITSTELLUNG wortlover


 

Augen, meine lieben Fensterlein,
Gebt mir schon so lange holden Schein,
Lasset freundlich Bild um Bild herein:
Einmal werdet ihr verdunkelt sein!

Fallen einst die müden Lider zu,
Löscht ihr aus, dann hat die Seele Ruh;
Tastend streift sie ab die Wanderschuh’,
Legt sich auch in ihre finstre Truh.

Noch zwei Fünklein sieht sie glimmend stehn,
Wie zwei Sternlein innerlich zu sehn,
Bis sie schwanken und dann auch vergehn,
Wie von eines Falters Flügelwehn.

Doch noch wandl’ ich auf dem Abendfeld,
Nur dem sinkenden Gestirn gesellt;
Trinkt, o Augen, was die Wimper hält,
Von dem goldnen Überfluß der Welt!

 
 
27 
 August 
 
2012


 

DICHTUNG Marie Luise Kaschnitz
LESUNG Imogen Kogge
BEREITSTELLUNG wortlover


 

Alle die fortgehen
Durch die Glastür aufs Rollfeld
Durch die Bahnhofssperre
Die sich umdrehen, winken
Deren Blicke zu Boden sinken
Deren Gestalten
Langsam undeutlich werden

Alle sind du.

Du stehst bei mir
Wendest dich ab
Gehst fort
Wirst kleiner und kleiner

Seit wann

Seit dein Tod mir am Halse hing
Mir die Kehle zudrückte
Stehst Du immer wieder bei mir
Wendest dich ab
Gehst fort

Den Bahnsteig entlang
Rollfeldüber
Wirst kleiner und kleiner

Stehst da
Wendest dich ab
Gehst –

 
 
12 
 Mai 
 
2012


 

DICHTUNG Rainer Maria Rilke
LESUNG Vera
BEREITSTELLUNG RilkeForum


 

Wunderliches Wort: die Zeit vertreiben!
Sie zu ‘halten’, wäre das Problem.
Denn, wen ängstigts nicht: wo ist ein Bleiben,
wo ein endlich ‘Sein’ in alledem? –

Sieh, der Tag verlangsamt sich, entgegen
jenem Raum, der ihn nach Abend nimmt:
Aufstehn wurde Stehn, und Stehn wird Legen,
und das willig Liegende verschwimmt –

Berge ruhn, von Sternen überprächtigt; –
aber auch in ihnen flimmert Zeit.
Ach, in meinem wilden Herzen nächtigt
obdachlos die Unvergänglichkeit.