Lyrik ~ Klinge
    Versuch einer Dichtung            

5 
 November 
 
2016


 
  • Wir haben keine zu geringe Zeitspanne, sondern wir vergeuden viel davon.
    Lang genug ist das Leben bemessen, auch für die allergrößten Unternehmungen, wenn es nur insgesamt gut angelegt würde.
    Doch sobald es in Verschwendung und Oberflächlichkeit zerrinnt, sobald es für keinen guten Zwecke verschwendet wird.
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  • Wir haben kein kurzes Leben empfangen, sondern es kurz gemacht.
    Keinen Mangel an Lebenszeit haben wir, sondern gehen verschwenderisch damit um.
    Es ist wie mit reichen und königlichen Schätzen. Sobald sie an einen schlechten Herrn kommen, sind sie im Nu vergeudet, während ein auch noch so bescheidenes Vermögen, wenn es einem tüchtigen Verwalter anvertraut ist, durch Nutzung wächst.
    So bietet unsere Lebenszeit dem, der sie gut einteilt, genug Raum.
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  • Doch wer bürgt dir dafür, dass du so lange lebst?
    Wer wird es gestatten, dass alles so verläuft, wie du es dir einteilst?
    Schämst du dich nicht, nur die kümmerlichen Reste deines Lebens für dich zu behalten und für sinnvolle geistige Beschäftigung nur die Zeit zu bestimmen, die für kein anderes Geschäft mehr taugt.
    Es ist doch reichlich spät, erst dann mit dem Leben beginnen, wenn man es schon bald beenden muss.
    Und wie unvernünftig ist es, seine Sterblichkeit so weit zu vergessen, dass man gute Vorsätze auf das fünfzigste und sechsigste Lebensjahr verschiebt und erst in einem Alter zu leben beginnen will, das nur wenige erreichen.
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  • Was wird sein?
    Du bist beschäftigt … das Leben aber eilt dahin.
    Unterdessen steht der Tod vor der Tür, für den du – ob du willst oder nicht – Zeit haben musst.
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  • Das größte Hindernis im Leben ist die Erwartung, die uns an das Morgen bindet und uns das Heute verlieren lässt.
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  • Was in der Hand des Schicksals liegt, darüber willst du verfügen, was du selbst in der Hand hast, das lässt du los.
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  • Wonach hältst du Ausschau, worauf richtest du deine Hoffnungen?
    Alles was noch kommt, liegt im Ungewissen, JETZT sollst du leben.
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  • Vergil:
    Was zauderst du? Was zögerst du?
    Wenn du die Zeit nicht packst, entflieht sie. Und selbst, wenn du sie gepackt hast, läuft sie dennoch davon.
    Also muss man gegen die Schnelligkeit der Zeit ankämpfen, indem man sie rasch nutzt.
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  • Es gibt nicht das beste Alter, sondern den besten Tag.
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  • Verzettele dich nicht in vielerei Beschäftigung!
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  • Lasse dich nicht fesseln vom äußeren Glanz an sich belangloser Ereignisse! [1]Talkshows und Hypes
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  • Das Leben des Weisen wird dadurch lang, dass er alle Zeiten in eine einzige zusammenfasst.
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  • Trenne dich also von der großen Masse [,mein lieber Paulinus] und ziehe dich endlich in einen ruhigeren Hafen zurück! Du bist ja für deine Jahre schon über Gebühr umgetrieben worden!
    Bedenke doch nur, wie vielen Fluten du schon ausgesetzt warst, wie viele Stürme du im Privatleben ausgehalten, wie viele du in der Öffentlichkeit schon auf dich gezogen hast. In mühevoller und rastloser Tätigkeit hast du schon genügend Beweise deiner Tüchtigkeit gegeben.
    Probier’ jetzt, was sie in der Muse leistet!
    Den größeren Teil deines Lebens, gewiss den besseren, hast du dem Staat gewidmet, etwas von deiner Zeit nimm nun auch für dich.
  •  

  • Deine Geisteskraft [,lieber Paulinus], ist in höchstem Maß befähigt für hohe Aufgaben, rufe sie nun zurück von einem Amt, das zwar ehrenvoll ist, aber nicht ausreicht, um ein glückliches Leben zu führen.
  •  

Fußnoten[+]

 
 
18 
 Juli 
 
2012

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DICHTUNG Ingeborg Bachmann
LESUNG Ingeborg Bachmann
BEREITSTELLUNG wortlover


 

Mein lieber Bruder, wann bauen wir uns ein Floß
und fahren den Himmel hinunter?
Mein lieber Bruder; bald ist die Fracht zu groß
und wir gehen unter.

Mein lieber Bruder; wir zeichnen aufs Papier,
viele Länder und Schienen.
Gib acht, vor den schwarzen Linien hier
fliegst du hoch mit den Minen.

Mein lieber Bruder, dann will ich an den Pfahl
gebunden sein und schreien.
Doch du reitest schon aus dem Totental
und wir fliehen zu zweien.

Wach im Zigeunerlager und wach im Wüstenzelt,
es rinnt uns der Sand aus den Haaren,
dein und mein Alter und das Alter der Welt
misst man nicht mit den Jahren.

Lass dich von listigen Raben, von klebriger Spinnenhand
und der Feder im Strauch nicht betrügen,
iss und trink auch nicht im Schlaraffenland,
es schäumt Schein in den Pfannen und Krügen.

Nur wer an der goldenen Brücke für die Karfunkelfee
das Wort noch weiß, hat gewonnen.
Ich muss dir Sagen, es ist mit dem letzten Schnee
im Garten zerronnen.

Von vielen, vielen Steinen sind unsre Füße so wund.
Einer heilt. Mit dem wollen wir springen,
bis der Kinderkönig, mit dem Schlüssel zu seinem Reich im
Mund,
uns holt, und wir werden Singen:

Es ist eine schöne Zeit, wenn der Dattelkern keimt!
Jeder, der fällt, hat Flügel.
Roter Fingerhut ist’s, der den Armen das Leichentuch
säumt,
und dein Herzblatt sinkt auf mein Siegel.

Wir müssen schlafen gehn, Liebster, das Spiel ist aus.
Auf Zehenspitzen. Die weißen Hemden bauschen.
Vater und Mutter sagen, es geistert im Haus,
wenn wir den Atem tauschen.

 
 
11 
 April 
 
2012


 

Der Abend küsste geheimnisvoll
Die knospenden Oleander.
Wir spielten und bauten Tempel Apoll
Und taumelten sehnsuchtsübervoll
Ineinander.

Und der Nachthimmel goss seinen schwarzen Duft
In die schwellenden Wellen der brütenden Luft,
Und Jahrhunderte sanken
Und reckten sich
Und reihten sich wieder golden empor
Zu sternenverschmiedeten Ranken.

Wir spielten mit dem glücklichsten Glück,
Mit den Früchten des Paradiesmai,
Und im wilden Gold Deines wirren Haars
Sang meine tiefe Sehnsucht
Geschrei,
Wie ein schwarzer Urwaldvogel.

Und junge Himmel fielen herab,
Unersehnbare, wildsüsse Düfte;
Wir rissen uns die Hüllen ab
Und schrieen!
Berauscht vom Most der Lüfte.

Ich knüpfte mich an Dein Leben an,
Bis dass es ganz in ihm zerrann,
Und immer wieder Gestalt nahm
Und immer wieder zerrann.
Und unsere Liebe jauchzte Gesang,
Zwei wilde Symphonieen!