Lyrik ~ Klinge
    Versuch einer Dichtung            

30 
 Juni 
 
1998


 

Irdisches Verblühn
 
Ein Hörspiel
in Anlehnung von Werthers Tagebuchnotiz
vom 30. Juli 1771
 


Erzähler

Albert, Gesellschaftssekretär aus wohlhabendem Hause, reiste an, das Liebespfand von Lotte, einer Adligen, zu lösen.

Werther, pflichtvergess’ner Träumer bürgerlichen Stands, ersonn indes sich gleichfalls Gunst im holden Liebeswerben. Doch brotlos blieb die Kunst.
Lotte leistete Albert den Treueschwur.

Der Sorgengeister bleierne Kuss lag schmachtend auf der Seele zartem Geblüte und schlug den Musensohn in Banden.

 

Fürwahr, sein dumpfer Augenschein war lichter schon entflammt und loderte einst den ungetrübten Wonneglanz muntrer Erdentage.

Damals mit Lotte auf dem leichten Pfad des Einander-Verstehens, als sie durch die rankbewachsenen Wälder der heimischen Fluren lustwandelten und mit frohem Schritte aller Banden gelöset sich dem ewigen Herzensfrieden anbefahlen, frei vom Regelzwange einer gefühlserkalteten, mechanisch gefügigen Welt.
Nicht selten entfloh ihr Zartgeist dem wirren Lärmen jener Welt, die in ihrer heillosen Geschäftigkeit mit eifernder Glut nach materieller Glückseligkeit gierte, mit ihrer gutbürgerlichen Tüchtigkeit die berstenden Kammern häufender Habe zu füllen gedachte, um im erquicklichen Bade des Geldstromes das sorgende Jammern der Seele zu ersäufen, anstatt ihr erhabenes Sehnen nach wahrem Erdenglück gebührend zu stillen.
Ach, wie treu wogen sie indes die stillen Momente im Heiligtum der empfangenden Natur, die sie in ihren blumen Purpurmantel bergend hüllte und beide im trauten Flüstertone Liebesworte fromm einander beichten durften.
Doch alles schwindet, alles auf dem Erdenkreise schwindet und mündet kläglich ins weite Meer der Vergänglichkeit.
Werther, des Friedens beraubt drang entschwelgter Brust auf die entlegnen Fluren der einst so stillen Zweisamkeit.

Chor

Dumpf steigt aus kühler Herzensgruft
der bersten Glocke Leidgesang,
der lüftewogend durch die kalte Geistesnacht
gespenstisch raunt
und Tränenzoll erheischt.

Gewiß, Tränenzoll,
als Preisgeld heitrer Erdenstunden.

Oh, Hades,
Du schmuckerpichter Schattenfürst,
dem’s selbst an prächtigem Gewand ermangelt,
wie lang, wie lang gedenkst Du noch,
daß mit der Seele heiligen Perlenflut
er Dir die unbeschwerten Erdentage löhne,
mit salzger Perlenzier
die Halseskette mühesam Dir fädle,
daß sie mit prunkem Tränenschimmer
Dich lieblicher erstrahlen möge.

Zier’ mit dieser Ruhmeskette
doch Deiner Gattin marmorweißen Hals,
daß ehrend sie zum holden Dank
mit ihrem duftgen Wiesenzauber
den welken Garten Deiner fernen Jugend
wieder grünen läßt
und sende ihm indes
Zephyris milden Wonnehauch.

Laß Deine grauen Wolkenschleier fallen,
ihn Helios goldnes Antlitz schaun,
den frostigen Gedankenschauer,
der ihm in bangem Busen wintert
in seinem Gnadenlichte schmelzen,
beströmend seiner lichten Segensgabe
die eisen Herzensquellen tauend brechen.

[Vogelgesang des Waldes, Fußschritte des dahergehenden Werther]

 
Werther

Ach, Lottchen,
der Schönheit liebstes Kinde und reich beschenkt an Geistesgaben,
verbann’ mich nicht von Deinem Sternenzelt, das lieblich prangt im lauen Abendschein
berauschter Sommernächte…

Wes hehren Geistes Firmament sollt’ sonst ich denn bestirnen im ewigkreisenden All?
Spende mir nur einen matten Schimmer in jenem Ätherreich,
aber lass mich leuchten, lass mich leuchten, als unscheinbarer, blasser Sternentrost
nicht buhlend mit Albert, dem lichtbekränzten Siegesheld an Deinem Himmelsgewölb’.
Abendtau linde entatmend umwolkt selbst Selene ihn glorreich mit dunstigem Vlies.

Oh, welch’ selige Heimstatt eines Erdgeplagten.
Nur dort in Deinen goldnen Bahnen prangt des Paradieses verbliebene Schöne.

Denn hier im Erdental sind sie versiegt,
die muntren Quellen irdischer Wonnen
und stiller denn je
streifen die trauten Winde
durch des Haines einsamer Gründe.

So entfliehet doch ihr irdischen Gefilde,
ferner betöret mich euer duft’ger Wiesenzauber,
jenseits heiler Kunst!

Mehr verlanget mich
nach eines fühlenden Herzen’s Märchenhaine,
wo des Jünglings totgeschwiegener Geist frei wandeln darf,
wo lausches Ohr ihm zugeneigt
und bäldigste Genesung wird zuteil
durch heiliger Lippen balsamischer Rede.

Nur dort frohlockt,
erbebt die matte Brust in seligem Jubilier’n,
wiegt sich beflügelter Gedanken zwitschernder Reigen
in höchsten Tannenwipfeln,
und des spendenden Trostes treues Geleit
stützt der Bürde schweren Gang,
auf dem rauhen Steg der wirren Zeit.

Heil den Trösterworten, die mit wahrem Frühlingstau
die strömenden Wunden lindernd mir benetzen,
die befiedert als zwitschernd und fächelnde Schar
mich mit süßem Singspiel sonnen
und zarter Worthauch mich zugleich bekühlet.

Ewigwährendes Heil dem reinen Gedankenweben,
dessen Rede Blumenkranz mit duftender Entsendung
vermag das fahle Haupt mir schmückend zu bekränzen,
adelnd mit Lorbeer-Reden
die Schläfe liebgeflochten zu umwinden…

Doch er welkt dahin, Lottes mattgeword’ner Rosenblick,
flaut kehrt sich die ambrosische Brise Ihrer Seele Zauberhauch.
Das Lampenöl ist aufgezehrt…

Gewiß, auch Dich, Amor,
Du mildbeflammter Seelenwächter,
entwaffnet rege Frevelhand der rauhen Zeit,
entreißt den sich’ren Schaft
der ölgetränkten Fackel Dir
und tauchet sie in Lethes Leidensstrom
mit kraller Bärenpranke nieder.

Der milde Sommer im Busen verstreicht
und weicht
dem fahlen Welken muntrer Tage.

Drum, Seel’, verschmäh’ auch Du den nicht’gen Tand,
der Wiesen schmuckes Blumenband.

 
Erzähler

Es hemmte den Schritt des Kummers schwere Last
und Werther ersonn auf kühlem Steine
unweit des Weges sich erquickende Rast.

Der sonst so gestählte Blick zerbrach
und schmolz bestürmt zur Tränensaat.
Trän’ um Trän’ ergoß mit heißem Quellen sich
die perlenreiche Flut,
furchte salz’ge Wangenbäche
und raubte brausen Stromes gramentschäumt
den klaren Augenglanz.
Der Herzenspfahl grub tiefer sich
und riss der Wunde ein blutendes Rinnsal,
träufelnd und zum Leben salbend aus heiligem Gral
den steinernen Gesellen.

Der Stein vernahm
des Jünglings brennenden Harm
erfühlend die klaffende Wunde

Regend erfragte
der sonst wortbekargte
nunmehr gerührte Felsenstein
des Leids offenbarende Kunde,
das Laster der wütenden Pein,
was ihm im schweren Busen wühlt.

Werther erlauschte
des fühlenden Steines Widerhall
und erhob die Klage
mit der Seele mattem Flügelschlage

 
Werther

Was soll der Götter laun’sches Narrenspiel,
das unentwegt mit heißem Lustgefühl
begehrt, dem siechend’ Erdensohn zu drängen :
Kühlet sich die Zeusesbrust, die ruhmerglühte,
mit Tränenflut menschlicher Trauergesängen ?
Füllt damit Poseidon die Weltenmeere,
trübsalserpicht,
Menschenzähre um Menschenzähre ?

Raubt Helios’ Lächeln sich die Siegesstrahlen
vom erlosch’nen Augenlicht
gefall’ner Helden, um fremdbeprunkt zu prahlen ?

Dünkt Flora, das prachtentfächerte Rosengewand
im Pril verflossenem Streiterblut zu färben ?

 
Stein

Des Frevel’s Maß ist nunmehr voll,
Ihr reizt der Götter Donnergroll!
Schweigt hinfort, so schweigt,
der Lästergeist soll nimmerkehrend Euch entfahren
und neigt
den himmlischen Scharen
das Spötterhaupt mit reuem Herzen.

 
Werther

Oh soll doch am abendhimmelnden Aulis’ Strand
Helios blutend’ Wächterauge
sich in die schwarzen Massen tauchend senken
und Morpheus dunkler Schleier – sonnenlichtringend –
mit finst’rem Blick allmählich nachten …

Dem Leidgeplagten auf verwaistem Erdenpfad
schauert nicht der eise Würgegriff,
schreckt nicht des Todes glatter Degenstich
lüstern in die schmerzend Brust gerammt,
tilgt nichts, was eh’ schon ist verflammt.

[Pause]
[zum Stein sich herablassend]

Stein,
ergründest Du der Seele reißenden Strudelstrom,
erfühlest Du der Menschen schmerzliches Regen, …

… wenn Hades Schattenklauen in Bälde mich erhaschen
weil Lottes froher Märe Widerhall verstreicht und ewig harret,

… wenn kampfbeflügelt im Philisterlande,
meines Herzen’s Trachten freiflatterndes Banner
im Spottgehagel doch zum Erdenstaube sinken muß,

… wenn Pegasus glühender Wirbelhuf
mein leuchtend Sternendastein bersten wird,
und scharrend auf Erlöschung sinnt

… und des Zeuses Götterarm dann zornbeweget,
mich zu feinem Sternenstaub zermahlt,
weil ich mit mattem Schein die Erdenwohner nicht beglücke
und drum dem Sternenzelt entweichen muß.

 
Stein

Zeus erzürnt
und verderblich Euch gesinnt,
der selbst Amores’ Fackelstab
göttersendend Euch entlieh,
mit lieblich flammenden Geisteslicht
der Menschen Herzensgrüfte zu erleuchten ?

Worttand,
der Götter menschenfreundlich Trachten
erwärmt sich mehr am lodernden Geist
denn an seiner verglimmenden Glut.

Und sollte in fernen Tagen
der Toteninsel Fackelruf einst doch Euch flammen,
so schaudert nicht
und hebet Euch getrost in Charons Kahn.

Denn sehet,
wie rings umher auf lichtgeschwellter Heide
der reichen Apfelbäume Blütenzauber
sich an Helios Liebesstreich erlaben,
daß jedes weilend Auge schwelgt,
sich unersättlich daran weidet.

Auch dieses Schmuckgewande welkt,
entweicht und MUSS entweichen
dem höher’n Glück,
das waltende Zepter dazureichen
der eigentlichen Segensfrucht.

So wie des Samens Hülle nicht erstirbt,
vermag auch nicht der Sproß
aus ew’gem Schattenreich sich stolz erheben.

Denn jenes wirkt den Lauf der frommen Natur:
Es erringt der Venus Gunst,
wenn flüchtiger Dunst der nieder’n Kunst
entflieht und Schönes Schöneres gebiert.

 
Chor

Traure drum nicht dem erblühten Gedanken der seligen Hoffnung
Bitteren Tränenzoll nach, wenn die mächtige Hand
Nachtenden Scheins dein Gedankenreich deckt mit Vergessen,
Jenen sonnigen Hain hüllet ins Schattengewand,
Dem der zärtliche Lichtstreich der Freiheit Prachtwuchs bescherte.

Nun denn der Lichtflut entraubt, rückt das Gefild der Ideen
Tauchend ins Schattenreich ab. Es entschwelgt das selige Schauen.

Sei getrost und erfreu himmlischer Gabe Dich doch,
Daß der Muse Sommerwind streichend den Forst mild durchglänzte,
Deinen geheiligten Grund blumen Geistes Bezirk.

Geistesblüten, sie welken nicht. Morpheus, die nächtliche Gottheit,
Bangt um den lieblichen Reiz. Treu im Liebesarm wiegt
Sicher den Liebling er, deckt mit ambrosischem Schlafe die Blüte,
Mattet das Farbengewand und, mit sachtem Geschick,
Senkt er den Kelch des Geblüms zum Schoße der schwärzenden Erde,
Senkt in den ruhenden Schoß sinnenden Herzensgrund ihn.

Heilige Erde, Du Heimstatt der scheuen Gedanken, beherberg’
Frei die verwaiste Geburt geistigen Adels. Gewähr’
Fürstlich ein Obdach dem nächtlichen Gaste in Deinem Schoße.
Gönn’ dem untadligen Schlaf kühlende Ruhstatt gelind.

Reich der liebkosenden Schatten, oh weile als wachender Hüter,
Bis im dämmernden Tal purpur Aurora entflammt,
Wo mit loderndem Brand sie Helios Auge beschüret.

Schimmernd woget die Glut übers Gefild der Ideen.
Nebel verziehn im Blumenhain, Schatten, sie weichen entmachtet.

Siehe, da neigt das Geblüm schmiegend dem Lichtstreich sich zu.
Badet sich munter im warmen Lichtmeer erwachenden Tages.

Und Mnemosyne daselbst küßt es mit Morgentau wach.