Lyrik ~ Klinge
    Versuch einer Dichtung            

10 
 Dezember 
 
2017


 

Wirtschaftsanwalt Urs Blank, fünfundvierzig, hat seine Gefühle im Griff. Er hat es gelernt, sich keine Blöße zu geben, hingegen die der anderen zu nutzen. Blank ist Fachmann für Fusionsverhandlungen und der Star der Branche. In letzter Zeit allerdings quält ihn ein diffuses Unbehagen – auch ein Grund, warum er sich so intensiv um die schöne Lucille bemüht, die ein völlig anderes Leben führt als er. Durch Lucille lernt er die magische Welt der halluzinogenen Pilze kennen. Bei einem überwältigenden Trip spielt ihm jedoch ein unbekannter zyanblauer Pilz einen bösen Streich. Blanks Persönlichkeit ist fortan verändert. Er fühlt sich gottgleich und gibt jeder Gefühlsregung sofort nach – auch der gefährlichsten. Blank erkennt, dass ihm keiner helfen kann, und flieht in den Wald, den einzigen Ort, wo er zur Ruhe kommt und glaubt, niemandem gefährlich zu werden. Und während man in der ›zivilisierten‹ Welt denkt, der Staranwalt habe sich das Leben genommen, lernt Blank das Überleben in den Wäldern. Er beginnt zu begreifen: Es gibt nur einen Weg, um sich aus diesem Alptraum zu befreien. Wie ›Small World‹ liest sich auch diese faszinierende Geschichte einer Persönlichkeitsveränderung wie ein hochspannender Thriller, denn die beiden Protagonisten Urs Blank und Konrad Lang haben einen ähnlich mörderischen Gegner – die Zeit.

Quelle: Diogenes-Verlag

Anfänglich beschwerlich fand ich die Verortung der handelnden Personen in ihrem Beziehungsgeflecht zueinander (Soziagramm), die Um- bzw. Verteilung der Fusionsmasse diverser Wirtschaftsunternehmen.

Allerdings war ich fasziniert von der prosaischen Beschreibung innerpsychischer Zustände anhand außerphysischer Erscheinungen.

Eines der gelungensten Beispiele fand ich persönlich auf Seite 201 ff.:
Der totgeglaubte, vermeintlich dem Suicid erlegene Urs Blank war in der zivilisierten, zeitrasenden (Wirtschafts-)Welt nicht mehr physisch präsent, lediglich namentlich noch in Form eines Messingschildes an seiner Kanzlei als Gravur vorhanden.
Und selbst dieses bürgerliche, namentlich-rechtlich ausgezeichnete “Aushängeschild” mit Daseinsbefugnis im Handelsregister verschwindet – nach weiteren, überwiegend sich ausschweigenden 100 Buchseiten – durch eine erzählerisch lakonisch gehaltene Demontage jenes Überbleibsels.

Gelebtes Leben indes findet Urs Blank in der Fauna und Flora des Waldes.
Dort agiert er allerdings nicht mehr als namentlich erwähnte Einzelperson in der Kategorie Mensch, sondern als Teil eines Ökosystems, in dem ER sich der Umwelt anpassen muss und nicht -wie in seinem bisherigen Leben- diese sich IHM anpasst.
Weder (erhabene 3D-)Embleme auf Briefköpfen, noch (eingegrabene) Gravuren auf Statussymbolen bestimmen das Sein, sondern die beständigeren Konturen der wilden und doch zahmeren Pflanzenwelt im milden Lichte wechselnder Tageszeiten.

 
 
22 
 Mai 
 
2016


 

im_falschen_licht_carlo_schäfer
Dann stampfte er [Erster Hauptkommissar Theuer] die vielen Treppen hoch, die ihm als Ausrede dienten, keinen Sport zu treiben. In seiner kleinen Zweizimmerwohnung angekommen, ließ er sich auf den alten Sessel plumpsen und dachte an seine tote Frau. […]

Es war ein Abend, um die erwachsenen Kinder anzurufen, die er nicht hatte, oder bei den Geschwistern nachzufragen, wie die Kontrolluntersuchungen an Brust und Prostata gelaufen waren – er hatte keine Geschwister. Ein paar Cousins und Cousinen gab es, mehrheitlich im Pfälzer Wald und Saargebiet mit der Ehe mindestens so geschlagen wie er mit dem Alleinsein. […]

“Im falschen Licht” (Carlo Schäfer), S. 35, 36.

Theuer hat sie erfahren, die Hölle der Einsamkeit und wog sie nicht minder als manche “Vergesellschaftung” in einer unglücklichen Ehe, in der der Einsamkeit Schwester, das Nicht-Verstanden-Wissen, stete Begleiterin ist und Traurigkeit der nacheilende Schatten.

Es gibt Atheisten, die nicht an die Hölle glauben.
Es gibt Christen, die an den Himmel glauben.
Und es gibt Christen, die nur an den Himmel gedenken zu glauben, um nicht in der allverzehrenden Hölle zu landen.
Letztgenannte glauben nicht an den Himmel aus Liebe zu Gott, sondern aus Angst vor dem Teufel.
Sie glauben nicht aus Überzeugung, aus Liebe, sondern aus Gründen der Vermeidung, der Schadensbegrenzung.

Liebe, Überzeugung und authentische Hingabe sollten die Triebkraft in einer Beziehung sein, nicht die Angst oder gar Flucht vor der Einsamkeit.
Es ist besser allein zu bleiben, als (weiterhin) bestehende Einsamkeit in Liebe zu verkehren.

Die Hölle der Einsamkeit sollten man nicht eintauschen gegen den Himmel der vermeintlichen Zweisamkeit, erst recht nicht, wenn man nicht daran glaubt.