Lyrik ~ Klinge
    Versuch einer Dichtung            

12 
 Februar 
 
2018


 

Anfangs begreift Peter Taler nur, dass im Haus gegenüber, in dem der achtzigjährige Knupp wohnt, sonderbare Dinge vor sich gehen. Er beginnt zu beobachten und mit der Kamera festzuhalten – und merkt erst spät, dass er seinerseits beobachtet wird und längst in die Geschehnisse auf der anderen Seite der Straße verstrickt ist. Der alte Knupp, der vor zwanzig Jahren seine Frau verloren hat, ist davon überzeugt, dass man nicht wie Orpheus ins Totenreich hinabsteigen muss, um einen geliebten Menschen wiederzufinden. Denn er hat eine Theorie und kann sich dabei sogar auf berühmte Leute berufen. Allerdings ist deren Umsetzung nicht einfach. Um nicht zu sagen – schier unmöglich. Taler soll ihm dabei helfen.

Quelle: Diogenes-Verlag

Bewunderswert ist an diesem Roman wiederum die Textarchitektur, die innere Mechanik, die Zahnräder der Handlung, die mählich ineinander greifen und geheimnisvolle Türen verdichteter Ahnung öffnen.

Es gab keinen Zweifel. Knupp war nicht normal.

Knupp ist mit seinen monotonen, auf stete Wiederholung bedachte Alltagsgeschäfte durchaus eine konstante Zierpflanze im Variablengestrüpp ständiger Veränderung. Peter Taler strebt ja auch selbst nach ruhenden Bildern und deren Abgleich.

* * *

Suter malt nicht mit dem Pinsel das Bühnenbild, sondern drückt diesen der Fantasie des Lesers in die Hand, mit minimalistischen Anweisungen knapper Sätze selbst die innere Ausgestaltung vorzunehmen.

 
 
12 
 Februar 
 


 

Nach ihrer Scheidung von Frédérique Forster, einem Banker aus gutem Haus, möchte Sonia nur eines: einen Alptraum vergessen und ihren Seelenfrieden wiederfinden. Doch zunächst kommt es noch schlimmer: Nach einem unfreiwilligen LSD-Trip in einer Diskothek verrutscht ihr auch noch die Wirklichkeit. Sonia kann auf einmal Geräusche sehen, Farben fühlen, Formen schmecken. Tief verstört beschließt sie, für eine Weile aus der Stadt zu verschwinden. In Val Grisch im Unterengadin steht ein kurioses Wellness-Hotel vor der Neueröffnung, und so undurchsichtig seine finanziellen Voraussetzungen auch erscheinen: Die junge Besitzerin ist Sonia sympathisch und muss sie nicht lange überreden, dort ihren Beruf als Physiotherapeutin wieder aufzunehmen. So landet Sonia in einem Dorf, das dem Tourismus bislang verschlossen blieb – und dies auch bleiben möchte. Doch bis sie das begreift, müssen sich Dinge ereignen, die auf Anhieb keinen Sinn ergeben. Erst als sie auf eine alte Engadiner Sage stößt, ist sie in der Lage, die Zeichen zu deuten – und für sich und ihre nächste Umgebung das Schlimmste zu befürchten.

Quelle: Diogenes-Verlag

Martin Suter, der Antipod der Kontinentaldrift, der Angliederer ans (Hand-)Festland konsistenter Handlungen.

Wie immer erschafft er zunächst abgegrenzte kleine Handlungsinseln im endlosen Meer der Bedeutungen, um sie zu immer größer werdender Landmasse (Masse auch im physikalischen Sinne → Erdung) zusammenzuballen, wie Gewitterwolken, die sich dann in einem grellen Blitz der Erkenntnis entladen.

Diese Handlungsinseln folgen der Puzzlestrategie.
In Anlehnung an den Quicksort-Algorithmus [1]
Quicksort-Algorithmus
werden tausende von Puzzleteilchen zunächst nach einem bestimmten Kriterium durch den Leser “geistig vorsortiert”, z.B. mit Hilfe der “Farbe”: Himmel (hellblau), See (tiefblau), Wiesen (zartgrün), Wälder (dunkelgrün), Berge (grau), …, diese dann zu größer werdenden Fragmenten zusammengefügt bis das Gesamtbild steht, meist als Happy-End schön eingerahmt über dem Haupt des Lesers schwebend.

Fußnoten[+]

 
 
5 
 Februar 
 
2018


 

Der Journalist Fabio Rossi, dreiunddreißig, erwacht im Krankenhaus, mit einer Kopfverletzung und einem Blackout von fünfzig Tagen. Die blonde junge Frau, die sich zärtlich über ihn beugt, soll schon seit ein paar Wochen seine Freundin sein. Fabio hat sie nie zuvor gesehen. Seine Lebensgefährtin Norina dagegen weigert sich hartnäckig, mit ihm zu sprechen. Nur allmählich findet sich Fabio im eigenen Leben wieder zurecht. Aber er kommt einem Alter ego auf die Spur, das ihm immer rätselhafter wird. Warum bloß hatte er seinen Job beim ›Sonntag-Morgen‹ gekündigt? Und was verbirgt sich hinter der »ganz großen Sache«, an der er angeblich drangewesen ist, wie man in der Redaktion munkelt? Und welche Rolle spielte bei all dem sein bester Freund und Kollege Lucas Jäger, den er ausgerechnet mit Norina zusammen erwischt? Lucas, der am ehesten Zugang zu all seinen Unterlagen und elektronischen Daten hatte – die von dritter Hand manipuliert wurden. Fabio gibt nicht auf. Er rekonstruiert sein verschwundenes Leben Schritt für Schritt. Und er wird wieder in jene skandalöse Geschichte hineingezogen, die der Öffentlichkeit eigentlich verheimlicht werden sollte… Ein faszinierender Roman über einen Mann in einer Lebenskrise. Ein Psychothriller über eine Männerfreundschaft. Ein aufregender Krimi zu einem leider hochaktuellen Thema.

Quelle: Diogenes-Verlag

Szenenauswahl:
Die Beerdigung eines Atheisten ohne religiöses Zeremoniell.
Eine “tiefgläubige” Gemüseverkäuferin schüttelt den Kopf…

Mir gefällt, wie Martin Suter mit verschiedenen Lesarten oft spielt.

Ist diese Gemüseverkäuferin nur eine dieser zweckdienlichen Gottesdienstchristinnen und zugleich eine Alltagsheidin, die lediglich in einem formell erstarrten Gottesglauben verharrt und rein reflektorisch ihre (gespielte) Empörung zum Ausdruck bringt?
Ein kurzweiliges Köpfschütteln würde wohl eher für jenes oberflächliche Christenleben sprechen.

Martin Suter lässt aber noch eine weitere Option offen, als Fabio ein weiteres Mal von der anderen Straßenseite zur (immer noch) kopfschüttelnden Gemüseverkäuferin blickt, nämlich die Option einer wahrhaft gläubigen und keineswegs im Ritus verhafteten Gottesfrau.
Dieser sprachliche Kunstgriff einer weiteren Bedeutungsebene gelingt dem Autor Martin Suter mit dem sehr lakonischen Zusatz “Oder wieder?”, als fühle sie sich nach einer weiteren Besinnung in ihren religiösen Grundfesten erschüttert oder zumindest untröstlich irritiert.

Screenshot von Rendsburg
nach dem Lesen des Buches


Auch eine Erinngerungsinsel aus der Kindheit:
Mein erstes Buch (nach “Schild des Glaubens” von Jörg Erb), teilgelesen in den Sommerferien in Rendsburg, ebenfalls ein “Computer”-Krimithema, in dem – analog zum PowerBook von Fabio Rossi / Lucas Jäger – eine Frau auf dem Dachboden auf alten Disketten nach der wahren Identität ihres Mannes recherchiert.