22 September 2012 | |
DICHTUNG | Ingeborg Bachmann | |
LESUNG | Ingeborg Bachmann | |
BEREITSTELLUNG | wortlover |
Einmal war ich ein Baum und gebunden,
dann entschlüpft ich als Vogel und war frei,
in einen Graben gefesselt gefunden,
entließ mich berstend ein schmutziges Ei.
Wie halt ich mich? Ich habe vergessen,
woher ich komme und wohin ich geh,
ich bin von vielen Leibern besessen,
ein harter Dorn und ein flüchtendes Reh.
Freund bin ich heute den Ahornzweigen,
morgen vergehe ich mich an dem Stamm . . .
Wann begann die Schuld ihren Reigen,
mit dem ich von Samen zu Samen schwamm?
Aber in mir singt noch ein Beginnen
– oder ein Enden — und wehrt meiner Flucht,
ich will dem Pfeil dieser Schuld entrinnen,
der mich in Sandkorn und Wildente sucht.
Vielleicht kann ich mich einmal erkennen,
eine Taube einen rollenden Stein . . .
Ein Wort nur fehlt! Wie soll ich mich nennen,
ohne in anderer Sprache zu sein.
25 August 2012 | |
DICHTUNG | Paul Celan | |
LESUNG | Paul Celan | |
BEREITSTELLUNG | paulantschell |
Im Haus zum gedoppelten Wahn,
wo die Steinboote fliegen
überm
Weißkönigs-Pier, den Geheimnissen zu,
wo das endlich
abgenabelte
Orlog-Wort kreuzt,
bin ich, von Schilfmark Genährte,
in dir, auf
Wildenten-Teichen,
ich singe –
was sing ich?
Der Mantel
des Saboteurs
mit den roten, den weißen
Kreisen um die
Einschuß-
stellen
– durch sie
erblickst du das mit uns fahrende
frei-
sternige Oben –
deckt uns jetzt zu,
der Grünspan-Adel vom Kai,
mit seinen Backstein-Gedanken
rund um die Stirn,
häuft den Geist rings, den Gischt,
schnell
verblühn die Geräusche
diesseits und jenseits der Trauer,
die näher-
segelnde
Eiterzacke der Krone
in eines Schief-
geborenen Aug
dichtet
dänisch.