Lyrik ~ Klinge
    Versuch einer Dichtung            

27 
 Mai 
 
2015


 

 
Schöner als der beachtliche Mond und sein geadeltes Licht,
Schöner als die Sterne, die berühmten Orden der Nacht,
Viel schöner als der feurige Auftritt eines Kometen
Und zu weit Schönrem berufen als jedes andre Gestirn,
weil dein und mein Leben jeden Tag an ihr hängt, ist die Sonne.
Schöne Sonne, die aufgeht, ihr Werk nicht vergessen hat
Und beendet, am schönsten im Sommer, wenn ein Tag
An den Küsten verdampft und ohne Kraft gespiegelt die Segel
Über dein Aug ziehn, bis du müde wirst und das letzte verkürzt.
Ohne die Sonne nimmt auch die Kunst wieder den Schleier,
Du erscheinst mir nicht mehr, und die See und der Sand,
Von Schatten gepeitscht, fliehen unter mein Lid.
Schönes Licht, das uns warm hält, bewahrt und wunderbar sorgt,
Dass ich wieder sehe und dass ich dich wiederseh!
Nichts Schönres unter der Sonne als unter der Sonne zu sein …
Nichts Schönres als den Stab im Wasser zu sehn und den Vogel oben,
der seinen Flug überlegt, und unten die Fische im Schwarm,
Gefärbt, geformt, in die Welt gekommen mit einer Sendung von Licht,
Und den Umkreis zu sehn, das Geviert eines Felds, das Tausendeck meines Lands
Und das Kleid, das du angetan hast. Und dein Kleid, glockig und blau!
Schönes Blau, in dem die Pfauen spazieren und sich verneigen,
Blau der Fernen, der Zonen des Glücks mit den Wettern für mein Gefühl,
Blauer Zufall am Horizont! Und meine begeisterten Augen
Weiten sich wieder und blinken und brennen sich wund.
Schöne Sonne, der vom Staub noch die größte Bewundrung gebührt,
Drum werde ich nicht wegen dem Mond und den Sternen und nicht,
Weil die Nacht mit Kometen prahlt und in mir einen Narren sucht,
Sondern deinetwegen und bald endlos und wie um nichts sonst
Klage führen über den unabwendbaren Verlust meiner Augen.

Textdichterin Ingeborg Bachmann
Lesung Ingeborg Bachmann
Bereitstellung betapicts

 
 
22 
 September 
 
2012


 

DICHTUNG Ingeborg Bachmann
LESUNG Ingeborg Bachmann
BEREITSTELLUNG wortlover


 

Einmal war ich ein Baum und gebunden,
dann entschlüpft ich als Vogel und war frei,
in einen Graben gefesselt gefunden,
entließ mich berstend ein schmutziges Ei.

Wie halt ich mich? Ich habe vergessen,
woher ich komme und wohin ich geh,
ich bin von vielen Leibern besessen,
ein harter Dorn und ein flüchtendes Reh.

Freund bin ich heute den Ahornzweigen,
morgen vergehe ich mich an dem Stamm . . .
Wann begann die Schuld ihren Reigen,
mit dem ich von Samen zu Samen schwamm?

Aber in mir singt noch ein Beginnen
– oder ein Enden — und wehrt meiner Flucht,
ich will dem Pfeil dieser Schuld entrinnen,
der mich in Sandkorn und Wildente sucht.

Vielleicht kann ich mich einmal erkennen,
eine Taube einen rollenden Stein . . .
Ein Wort nur fehlt! Wie soll ich mich nennen,
ohne in anderer Sprache zu sein.

 
 
22 
 Juli 
 
2012


 

DICHTUNG Ingeborg Bachmann
LESUNG Ingeborg Bachmann
BEREITSTELLUNG wortlover


 

Vom Lande steigt Rauch auf.
Die kleine Fischerhütte behalt’ im Auge,
denn die Sonne wird sinken,
eh du zehn Meilen zurückgelegt hast.

Das dunkle Wasser, tausendäugig,
durchblutet Poseidons Reich
und schlägt die Wimper von weißer Gischt auf
dich anzusehn, groß und lang,
dreißig Tage lang.

Auch wenn das Schiff hart stampft
und einen unsicheren Schritt tut,
steh’ ruhig auf Deck.

An den Tischen essen sie jetzt den geräucherten Fisch.
Vorne werden die Männer hinknien
und die Netze flicken.

Aber nachts wird geschlafen,
eine Stunde oder zwei Stunden
und ihre Hände werden weich sein.

Fahl von Salz und Öl,
weich wie das Brot des Traumes,
von dem sie brechen.

Die erste Welle der Nacht schlägt ans Ufer,
die zweite erreicht schon dich.
Aber wenn du scharf hinüber schaust,
kannst du den Baum noch sehn,
der trotzig den Arm hebt.
Einen hat ihn der Wind schon abgeschlagen.

Und du denkst, wie lange noch?
Wie lange noch wird das krumme Holz den Wettern standhalten?

Vom Lande ist nichts mehr zu sehn.
Du hättest dich mit einer Hand in die Sandbank krallen
oder mit einer Locke an die Klippen heften sollen.

In die Muscheln blasend
begleiten die Ungeheuer des Meers
Nereus’ Töchter über die Wellen.
Sie reiten und schlagen
mit blanken Säbeln die Tage in Stücke.
Eine rote Spur bleibt im Wasser.
Dort legt dich der Schlaf hin,
zwischen Proteus und Glaukos.
Die Najaden treffen mit kaltem Stahl deine Brust.

Und dir schwinden die Sinne.
Da ist etwas mit den Tauen geschehen.
Man ruft dich und du bist froh,
dass man dich braucht.

Das Beste ist die Arbeit auf den Schiffen,
die weithin fahren:
Das Tauknüpfen, das Wasserschöpfen, das Bände dichten
und das Hüten der Fracht.

Das Beste ist müde zu sein
und am Abend hinzufallen.

Das Beste ist am Morgen
mit dem ersten Licht hell zu werden,
gegen den unverrückbaren Himmel zu stehen,
der ungangbaren Wasser nicht zu achten
und das Schiff über die Wellen zu heben
auf das immer wiederkehrende Sonnenufer zu.