Lyrik ~ Klinge
    Versuch einer Dichtung            

1 
 Mai 
 
2012


 

Eine Affenmutter, am Rande (des Wahnsinns) eines Waldgebiets lebend, beklagt sich über anormale Verhaltenszüge ihres Sohnes, der …

  • … vom schützenden (Familien-)Baum öfters herabsteigt
  • … derorts süßer schmeckende Beeren pflückt
  • … sich dann vom meterhoch wachsenden Steppengras bipedial (zweifüßig) aufrichtet,
  • … sich dabei förmlich dem Blick natürlicher Fressfeinde anbietet,
  • … um dann über die Prärie zu blicken, in die weithin streckende Steppenlandschaft sich träumend
  • … und begleitend von eigens evozierten Jubelrufen unbekannten Lautinventars

Die Nachbarin der Affenmutter tröstet die betroffene Mutter, erwähnt, dass dies in letzter Zeit kein Einzelfall sei, rät zur konventionellen psychiatrischen, orthopädischen und logopädischen Behandlung.
Die Gesundungsprognose verzeichne gute Chancen.

 
 
5 
 September 
 
2011

abgelegt in
Gedankenschau

 

Heute auf dem Postamt.
Keine tumultarische Warteschlange und nach unverzüglichem Aufruf der Postangestellten lege ich meinen zu versendenden Brief auf den Tresen und kommentiere diese Handlung salopp und wortknapp mit einem: “Einmal normal bitte!”.

Und während die Bedienung akkurat und pflichtbeflissen den Brief abwiegt, wäge auch ich meine Worte ab: “Aber was ist heute schon noch normal bei all den verrückten Dingen? (Lächelnd) Tja, was ist da noch normal? Vermutlich ist dieser Normal-Brief noch das einzig Normale überhaupt… (gespieltes Grübeln)“.

“Nun, auch beim Brief gibt es viele Varianten!”, erwiderte die fachkundige Postangestellte, während sie meinen schlicht normalen Brief mit einem noch schlicht normaleren selbstklebenden Briefmarkenetikett, farb- und motivlos, versieht.
“Gut, dann hätte ich doch gern eine Sondermarke!”, in der Hoffnung, dem normalen Brief doch noch Exklusivität zu verleihen…

 
 
27 
 August 
 
2011

abgelegt in
Gedankenschau

 

Die Erzählung ist nicht ganz unbekannt.
Ein schiffbrüchiger Mann mit nur noch einem Auge strandet an einer fernhin entlegenen Insel, die von Blinden besiedelt wird.
Diese Blindheit ist kein erworbener Defekt, sondern besteht seit ihrer Geburt, ist typisch für diese Art von Menschen. Diese Menschen kennen demzufolge keine Farben, ist das Grün des Grases fremd, die Himmelsbläue blieb zeitlebens ungesehen, die flammende Abendröte hieß nimmer sie schwärmen.
Doch die Blinden trauern nicht der bunten Farbenwelt nach.
Wieso auch? Was man nicht kennt, kann man auch nicht vermissen.

Und das gesellschaftliche Leben auf der Insel funktioniert auch ohne Farben.
Die Lebensbereiche sind gut auf die sensorischen Fähigkeiten der Bevölkerung abgestimmt und der Alltag gestaltet sich als völlig normal.
Nur dass eben der visuelle Wahrnehmungskanal nichtexistent ist.
Aber das tut der Lebensqualität keinen Abbruch, stellt auch keine existentielle Bedrohung dar.
Man hat sich damit arrangiert.

Die Frage ist nun, ob des Einäugigen Sehkraft in diesem gesellschaftlich abgesteckten Kontext eine Gabe ist oder eine Behinderung darstellt?
Wird der Einäugige zum König, zum Herdenführer gewählt aufgrund seiner “umsichtigen Gabe” oder wird er wegen seiner Andersartigkeit als Aussätziger verstoßen oder gar als halluzinierender Psychopath in eine Nervenheilanstalt eingeliefert?

Wie soll sich der Einäugige verhalten?
Soll er aufbegehren, Wahrheit verlauten?
Oder soll er sich diplomatisch den Gegebenheiten anpassen, unauffällig sein Tagwerk verrichten und tagtäglich sich selbst verleugnen, seinem Wesen, seinem angestammten Recht auf Individualität untreu sein?

höhlengleichnis_hoehlengleichnis_platon

Quelle: Radio Sai Hörer Journal

In Anlehnung an das Höhlengleichnis von Platon wollen die Blinden dem Einäugigen vielleicht keinen Glauben schenken.
Sie haben sich an die diffusen Schattenspiele in der dunklen Höhle ihrer Wahrnehmung gewöhnt, fühlen sich wohl in ihrer traulich eingerichteten Gedankenwelt und empfinden das farben- und konturengebärende Sonnenlicht als Irritation, als erschütterndes Irregulativ ihres marmorn gesockelten (und vielleicht auch stilisierten) Weltbildes.

Ihre Welt braucht keine geistigen Grenzerweiterungen.
Ihre Welt braucht keine Konturen.
Ihre Welt braucht keine Farben.