Lyrik ~ Klinge
    Versuch einer Dichtung            

22 
 Mai 
 
2016


 

im_falschen_licht_carlo_schäfer
Dann stampfte er [Erster Hauptkommissar Theuer] die vielen Treppen hoch, die ihm als Ausrede dienten, keinen Sport zu treiben. In seiner kleinen Zweizimmerwohnung angekommen, ließ er sich auf den alten Sessel plumpsen und dachte an seine tote Frau. […]

Es war ein Abend, um die erwachsenen Kinder anzurufen, die er nicht hatte, oder bei den Geschwistern nachzufragen, wie die Kontrolluntersuchungen an Brust und Prostata gelaufen waren – er hatte keine Geschwister. Ein paar Cousins und Cousinen gab es, mehrheitlich im Pfälzer Wald und Saargebiet mit der Ehe mindestens so geschlagen wie er mit dem Alleinsein. […]

“Im falschen Licht” (Carlo Schäfer), S. 35, 36.

Theuer hat sie erfahren, die Hölle der Einsamkeit und wog sie nicht minder als manche “Vergesellschaftung” in einer unglücklichen Ehe, in der der Einsamkeit Schwester, das Nicht-Verstanden-Wissen, stete Begleiterin ist und Traurigkeit der nacheilende Schatten.

Es gibt Atheisten, die nicht an die Hölle glauben.
Es gibt Christen, die an den Himmel glauben.
Und es gibt Christen, die nur an den Himmel gedenken zu glauben, um nicht in der allverzehrenden Hölle zu landen.
Letztgenannte glauben nicht an den Himmel aus Liebe zu Gott, sondern aus Angst vor dem Teufel.
Sie glauben nicht aus Überzeugung, aus Liebe, sondern aus Gründen der Vermeidung, der Schadensbegrenzung.

Liebe, Überzeugung und authentische Hingabe sollten die Triebkraft in einer Beziehung sein, nicht die Angst oder gar Flucht vor der Einsamkeit.
Es ist besser allein zu bleiben, als (weiterhin) bestehende Einsamkeit in Liebe zu verkehren.

Die Hölle der Einsamkeit sollten man nicht eintauschen gegen den Himmel der vermeintlichen Zweisamkeit, erst recht nicht, wenn man nicht daran glaubt.

 
 
23 
 Januar 
 
2016


 

DICHTUNG Bert Brecht
LESUNG Corinna Kirchhoff
BEREITSTELLUNG wortlover


 

Wer baute das siebentorige Theben?
In den Büchern stehen die Namen von Königen.
Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt?
Und das mehrmals zerstörte Babylon
Wer baute es so viele Male auf? In welchen Häusern
Des goldstrahlenden Lima wohnten die Bauleute?
Wohin gingen an dem Abend, wo die Chinesische Mauer fertig war
Die Maurer? Das große Rom
Ist voll von Triumphbögen. Wer errichtete sie? Über wen
Triumphierten die Cäsaren? Hatte das vielbesungene Byzanz
Nur Paläste für seine Bewohner? Selbst in dem sagenhaften Atlantis
Brüllten in der Nacht, wo das Meer es verschlang
Die Ersaufenden nach ihren Sklaven.

Der junge Alexander eroberte Indien.
Er allein?
Cäsar schlug die Gallier.
Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?
Philipp von Spanien weinte, als seine Flotte
Untergegangen war. Weinte sonst niemand?
Friedrich der Zweite siegte im Siebenjährigen Krieg. Wer
Siegte außer ihm?

Jede Seite ein Sieg.
Wer kochte den Siegesschmaus?
Alle zehn Jahre ein großer Mann.
Wer bezahlte die Spesen?

So viele Berichte.
So viele Fragen.

 
 
13 
 Januar 
 
2016


 

DICHTUNG Antoine de Saint-Exupéry
LESUNG Oskar Werner
BEREITSTELLUNG LYRIK & MUSIK


 

 
Erbarme Dich meiner, o Herr, denn meine Einsamkeit lastet auf mir. Es gibt nichts, auf das ich wartete. Hier bin ich in dieser Kammer, in der nichts zu mir spricht. Und doch wünsche ich nicht die Gegenwart der Menschen herbei, denn ich weiß mich noch verlorener, wenn ich in der Menge untertauche. Aber sich jene andere, die mir gleicht und die sich in eben solch einer Kammer befindet und sich doch glücklich fühlt, wenn die Menschen, denen ihre Zärtlichkeit gehört, anderswo im Hause geschäftig sind. Sie hört sie nicht und sieht sie nicht. Sie empfängt nichts von ihnen im Augenblick. Aber um glücklich zu sein, genügt es ihr zu wissen, daß ihr Haus bewohnt ist.

Herr, auch ich erwarte nicht etwas, das ich sehen oder hören könnte. Deine Wunder sind nicht für die Sinne. Doch um mich zu heilen, genügt es, wenn Du meinen Geist erleuchtest, so daß ich mein Heim verstehe.

Wenn der Wanderer in seiner Wüste einem bewohnten Haus angehört, so freut er sich dessen, obwohl er weiß, dass es am anderen Ende der Welt liegt. Keine Entfernung hält ihn davon ab, sich von ihm nähren zu lassen, und wenn er stirbt, stirbt er in der Liebe … Ich erwarte also nicht einmal, Herr, dass mein Heim mir nahe sei.

Sieh den Spaziergänger, dem in der Menge ein Gesicht auffällt. Er verwandelt sich, selbst wenn das Gesicht nicht für ihn bestimmt ist. So geht es jenem Soldaten, der in die Königin verliebt ist: Er wird Soldat einer Königin. Ich erwarte also nicht einmal, Herr, dass jenes Heim mir verheißen sei.

Auf den weiten Meeren gibt es glühende Schicksale, die sich einer gar nicht vorhandenen Insel geweiht haben. Sie singen, während sie auf dem Schiff sind, die Hymne der Insel und fühlen sich glücklich dabei. Nicht die Insel ist es, die sie glücklich macht, sondern der Gesang. Ich erwarte also nicht einmal, Herr, dass jenes Heim überhaupt bestehe …

Die Einsamkeit, Herr, ist nur Frucht des Geistes, wenn er krank ist. Er bewohnt nur ein Vaterland, das der Sinn der Dinge ist. So ist es mit dem Tempel, wenn er Sinn der Steine ist. Nur für diesen Raum hat der Geist Flügel. Er freut sich nicht über die Dinge, sondern allein über das Gesicht, das man durch sie hindurch erkennt und das sie miteinander verknüpft.

Gib nur, dass ich es abzulesen lerne.

Dann, Herr, wird meine Einsamkeit überstanden sein…