Lyrik ~ Klinge
    Versuch einer Dichtung            

1 
 Juli 
 
2011


 

Der Gott und die Bajadere
Indische Legende

 
Mahadöh, der Herr der Erde,
kommt herab zum sechsten Mal,
dass er unsers Gleichen werde,
mitzufühlen Freud und Qual.

Er bequemt sich, hier zu wohnen,
lässt sich alles selbst geschehn;
soll er strafen oder schonen,
muss er Menschen menschlich sehn.
Und hat er die Stadt sich als Wandrer betrachtet,
die Großen belauert, auf Kleine geachtet,
verlässt er sie abends, um weiter zu gehn.

Als er nun hinaus gegangen,
wo die letzten Häuser sind,
sieht er, mit gemalten Wangen,
ein verlornes schönes Kind:
“Grüß dich, Jungfrau!” – “Dank der Ehre!”
Wart’, ich komme gleich hinaus -”
“Und wer bist du?” – “Bajadere,
und dies ist der Liebe Haus.”

Sie rührt sich, die Zimbeln zum Tanze zu schlagen;
sie weiß sich so lieblich im Kreise zu tragen,
sie neigt sich und biegt sich und reicht ihm den Strauß.
Schmeichelnd zieht sie ihn zur Schwelle,
lebhaft ihn ins Haus hinein.

“Schöner Jüngling, lampenhelle
soll sogleich die Hütte sein.
Bist du müd’, ich will dich laben,
lindern deiner Füße Schmerz.
Was du willst, das sollst du haben,
Ruhe, Freuden oder Scherz.”

Sie lindert geschäftig geheuchelte Leiden.
Der Göttliche lächelt; er siehet mit Freuden
durch tiefes Verderben ein menschliches Herz.

Und er fordert Sklavendienste;
immer heitrer wird sie nur,
und des Mädchens frühe Künste
werden nach und nach Natur.

Und so stellet auf die Blüte
bald und bald die Frucht sich ein;
ist Gehorsam im Gemüte,
wird nicht fern die Liebe sein.

Aber, sie schärfer und schärfer zu prüfen,
wählet der Kenner der Höhen und Tiefen
Lust und Entsetzen und grimmige Pein.

Und er küsst die bunten Wangen,
und sie fühlt der Liebe Qual,
und das Mädchen steht gefangen,
und sie weint zum erstenmal;
sinkt zu seinen Füßen nieder,
nicht um Wollust noch Gewinnst.
Ach! die gelenken Glieder,
Sie versagen allen Dienst.

Und so zu des Lagers vergnüglicher Feier
bereiten den dunklen behaglichen Schleier
die nächtlichen Stunden, das schöne Gespinst.

Spät entschlummert unter Scherzen,
früh erwacht nach kurzer Rast,
findet sie an ihrem Herzen
tot den vielgeliebten Gast.

Schreiend stürzt sie auf ihn nieder,
aber nicht erweckt sie ihn,
und man trägt die starren Glieder
bald zur Flammengrube hin.

Sie höret die Priester, die Totengesänge,
sie raset und rennet und teilet die Menge.
“Wer bist du? was drängt zu der Grube dich hin?”

Bei der Bahre stürzt sie nieder,
Ihr Geschrei durchdringt die Luft:
“Meinen Gatten will ich wieder!
Und ich such ihn in der Gruft.
Soll zu Asche mir zerfallen
dieser Glieder Götterpracht?
Mein! er war es, mein vor allen!
Ach, nur eine süße Nacht!”

Es singen die Priester: “Wir tragen die Alten,
nach langem Ermatten und spätem Erkalten,
wir tragen die Jugend, noch eh sie’s gedacht.

Höre deiner Priester Lehre:
Dieser war dein Gatte nicht.
Lebst du doch als Bajadere,
und so hast du keine Pflicht.

Nur dem Körper folgt der Schatten
in das stille Totenreich;
nur die Gattin folgt dem Gatten:
Das ist Pflicht und Ruhm zugleich!
Ertöne, Trommete, zu heiliger Klage!
Oh nehmet, ihr Götter, die Zierde der Tage,
oh nehmet den Jüngling in Flammen zu euch!”

So das Chor, das ohn’ Erbarmen
mehret ihres Herzens Not;
und mit ausgestreckten Armen
springt sie in den heißen Tod.

Doch der Götterjüngling hebet
aus der Flamme sich empor
und in seinen Armen schwebet
die Geliebte mit hervor.

Es freut sich die Gottheit der reuigen Sünder;
Unsterbliche heben verlorene Kinder
mit feurigen Armen zum Himmel empor.

 

Dichtung Johann Wolfgang von Goethe
Lesung Gert Westphal
Bereitstellung wortlover

 
 
23 
 Mai 
 
2011

abgelegt in
Hexameter

 

Nicht Klopstock preis’ ich, noch Goethe, noch Schiller, das Pferdegespann der Weimarer Klassik! Apoll nur, dem Lenker des Wagens, gilt Ruhm.
Denn erst wenn die Gottheit den Zügel der sprachlichen Wendung
wohl führt, dem Versfuß sodann galoppierende Gräzie befehligt,
vollenden Dichter im Wettstreitgemenge die Laufbahn,
grünt ihnen der Lorbeer.

 
 
27 
 September 
 
2008


 

Lutz Görner lädt uns zu einer literarischen Reise auf YouTube ein und startet eine Lyrik-Reihe mit den folgenden Worten:

 
Hallo, seien Sie gegrüßt!
Seit 1989 arbeite ich an ‘Lyrik für alle’, einer Sendereihe, die im Januar 1993 zum ersten Mal ausgestrahlt wurde. Erst waren es 50 Sendungen, dann sehr bald 150, die nun mittlerweile zum fünften Mal gesendet wurden. Nun erstmals auf YouTube wünsche ich Ihnen viel Freude mit meiner Lesung der Gedichte.

 

 

Tausend Dank an Lutz Görner für die Einstellung auf YouTube!
Eventuelle Kommentare zum Video-Clip bitte direkt auf YouTube!


 

 


 

 
Rezitierte Gedichte

 
Die Wünschelrute (0:21)
Joseph von Eichendorff (1788 – 1857)

Schläft ein Lied in allen Dingen,
Die da träumen fort und fort.
Und die Welt hebt an zu singen,
Triffst du nur das Zauberwort.

 

 
Die Welt (1:07)
Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau (1616-1679)

Was ist die Welt und ihr berühmtes Glänzen?
Was ist die Welt und ihre ganze Pracht?
Ein schnöder Schein in kurzgefaßten Grenzen,
Ein schneller Blitz bei schwarzgewölkter Nacht,
Ein buntes Feld, da Kummerdisteln grünen,
Ein schön Spital, so voller Krankheit steckt,
Ein Sklavenhaus, da alle Menschen dienen,
Ein faules Grab, so Alabaster deckt.
Das ist der Grund, darauf wir Menschen bauen
Und was das Fleisch für einen Abgott hält.
Komm, Seele, komm und lerne weiter schauen,
Als sich erstreckt der Zirkel dieser Welt!
Streich ab von dir derselben kurzes Prangen,
Halt ihre Lust für eine schwere Last:
So wirst du leicht in diesen Port gelangen,
Da Ewigkeit und Schönheit sich umfaßt.

 

 
Was ist die Welt? (2:11)
Hugo von Hofmannsthal (1874 – 1929)

Was ist die Welt? Ein ewiges Gedicht,
Daraus der Geist der Gottheit strahlt und glüht,
Daraus der Wein der Weisheit schäumt und sprüht,
Daraus der Laut der Lieben zu uns spricht.
Und jedes Menschen wechselndes Gemüt,
Ein Strahl ists, der aus dieser Sonne bricht,
Ein Vers, der sich an tausend andre flicht,
Der unbemerkt verhallt, verlischt, verblüht.
Und doch auch eine Welt für sich allein,
Voll süß-geheimer, nie vernommner Töne,
Begabt mit eigner, unentweihter Schöne,
Und keines Andern Nachhall, Widerschein.
Und wenn du gar zu lesen drin verstündest,
Ein Buch, das du im Leben nicht ergründest.

 

 
Gedichte sind gemalte Fensterscheiben (2:51)
Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832)

Gedichte sind gemalte Fensterscheiben!
Sieht man vom Markt in die Kirche hinein,
Da ist alles dunkel und düster;
Und so sieht’s auch der Herr Philister:
Der mag denn wohl verdrießlich sein
Und lebenslang verdrießlich bleiben.

Kommt aber nur einmal herein,
Begrüßt die heilige Kapelle;
Da ist’s auf einmal farbig helle,
Geschicht und Zierat glänzt in die Schnelle,
Bedeutend wirkt ein edler Schein;
Dies wird euch Kindern Gottes taugen,
Erbaut euch und ergötzt die Augen!

 

 
Autorenabend (4:20)
Wislawa Szymborska (1929 – 2012)

Muse, kein Boxer zu sein bedeutet, gar nicht zu sein.
Das brüllende Publikum hast du uns nicht gegönnt.
Zwölf Zuhörer sind im Saal
Zeit anzufangen.
Die Hälfte ist da, weil es regnet,
der Rest sind Verwandte. Muse!
[…]

 

 
Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren (6:23)
Novalis (1772 – 1801)

Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller Kreaturen
Wenn die so singen, oder küssen,
Mehr als die Tiefgelehrten wissen,
Wenn sich die Welt ins freye Leben
Und in die Welt wird zurück begeben,
Wenn dann sich wieder Licht und Schatten
Zu ächter Klarheit wieder gatten,
Und man in Mährchen und Gedichten
Erkennt die wahren Weltgeschichten,
Dann fliegt vor Einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort.

 

 
Der Albatros (7:37)
Charles Baudelaire (1821 – 1867)
(übertragen von Therese Robinson)

Oft kommt es vor, dass, um sich zu vergnügen,
Das Schiffsvolk einen Albatros ergreift,
Den grossen Vogel, der in lässigen Flügen
Dem Schiffe folgt, das durch die Wogen streift.

Doch, – kaum gefangen in des Fahrzeugs Engen
Der stolze König in der Lüfte Reich,
Lässt traurig seine mächtigen Flügel hängen,
Die, ungeschickten, langen Rudern gleich,

Nun matt und jämmerlich am Boden schleifen.
Wie ist der stolze Vogel nun so zahm!
Sie necken ihn mit ihren Tabakspfeifen,
Verspotten seinen Gang, der schwach und lahm.

Der Dichter gleicht dem Wolkenfürsten droben,
Er lacht des Schützen hoch im Sturmeswehn;
Doch unten in des Volkes frechem Toben
Verhindern mächt’ge Flügel ihn am Gehn.