27 Oktober 2019 | |
DICHTUNG | Hermann Hesse | |
LESUNG | Stefanie Kloß | |
KOMPOSITION, ARRANGEMENT UND PRODUKTION | Schöherz&Fleer – Hesse Projekt | |
BEREITSTELLUNG | LYRIK & MUSIK |
Bleich blickt die föhnige Nacht herein,
Der Mond im Wald will untergehn.
Was zwingt mich doch mit banger Pein
Zu wachen und hinauszusehn?
Ich hab geschlafen und geträumt;
Was hat mir mitten in der Nacht
Gerufen und so bang gemacht,
Als hätt ich Wichtiges versäumt?
Am liebsten liefe ich vom Haus,
Vom Garten, Dorf und Lande fort
Dem Rufe nach, dem Zauberwort,
Und weiter und zur Welt hinaus.
6 April 2018 | |
DICHTUNG | Gottfried Benn | |
LESUNG | Fritz Stavenhagen |
I
Die trunkenen Fluten fallen –
die Stunde des sterbenden Blau
und der erblassten Korallen
um die Insel von Palau.
Die trunkenen Fluten enden
als Fremdes, nicht dein, nicht mein,
sie lassen dir nichts in Händen
als der Bilder schweigendes Sein.
Die Fluten, die Flammen, die Fragen –
und dann auf Asche sehn:
„Leben ist Brückenschlagen
über Ströme, die vergehn.“
II
Ein breiter Graben aus Schweigen,
eine hohe Mauer aus Nacht
zieht um die Stuben, die Steigen,
wo du gewohnt, gewacht.
In Vor- und Nachgefühlen
hält noch die Strophe sich:
„auf welchen schwarzen Stühlen
woben die Parzen dich,
aus wo gefüllten Krügen
erströmst du und verrinnst
auf den verzehrten Zügen
ein altes Traumgespinst.“
Bis sich die Reime schließen,
die sich der Vers erfand,
und Stein und Graben fließen
in das weite, graue Land.
III
Ein Grab am Fjord, ein Kreuz am goldenen Tore,
ein Stein im Wald und zwei an einem See -:
ein ganzes Lied, ein Ruf im Chore:
„Die Himmel wechseln ihre Sterne – geh.“
Das du dir trugst, dies Bild, halb Wahn, halb Wende,
das trägt sich selbst, du musst nicht bange sein
und Schmetterlinge, März bis Sommerende,
das wird noch lange sein.
Und sinkt der letzte Falter in die Tiefe,
die letzte Neige und das letzte Weh,
bleibt doch der große Chor, der weiterriefe:
die Himmel wechseln ihre Sterne – geh.
IV
Es ist ein Garten, den ich manchmal sehe
östlich der Oder, wo die Ebenen weit,
ein Graben, eine Brücke, und ich stehe
an Fliederbüschen, blau und rauschbereit.
Es ist ein Knabe, dem ich manchmal trauere,
der sich am See in Schilf und Wogen ließ,
noch strömte nicht der Fluss, vor dem ich schauere,
der erst wie Glück und dann Vergessen hieß.
Es ist ein Spruch, dem oftmals ich gesonnen,
der alles sagt, da er dir nichts verheißt –
ich habe ihn auch in dies Buch versponnen,
er stand auf einem Grab: „tu sais“ – du weißt.
V
Die vielen Dinge, die du tief versiegelt
durch deine Tage trägst in dir allein,
die du auch im Gespräche nie entriegelt,
in keinen Brief und Blick sie ließest ein,
die schweigenden, die guten und die bösen,
die so erlittenen, darin du gehst,
die kannst du erst in jener Sphäre lösen,
in der du stirbst und endend auferstehst.
23 Dezember 2017 | |
DICHTUNG | Theodor Storm | |
LESUNG | Christian Rode | |
BEREITSTELLUNG | wortlover |
Weihnachtabend 1852
Die fremde Stadt durchschritt ich sorgenvoll,
Der Kinder denkend, die ich ließ zu Haus.
Weihnachten war’s; durch alle Gassen scholl
Der Kinderjubel und des Markts Gebraus.
Und wie der Menschenstrom mich fortgespült,
Drang mir ein heiser Stimmlein in das Ohr:
»Kauft, lieber Herr!« Ein magres Händchen hielt
Feilbietend mir ein ärmlich Spielzeug vor.
Ich schrak empor, und beim Laternenschein
Sah ich ein bleiches Kinderangesicht;
Wes Alters und Geschlechts es mochte sein,
Erkannt ich im Vorübertreiben nicht.
Nur von dem Treppenstein, darauf es saß,
Noch immer hört ich, mühsam, wie es schien:
»Kauft, lieber Herr!« den Ruf ohn Unterlaß;
Doch hat wohl keiner ihm Gehör verliehn.
Und ich? – War’s Ungeschick, war es die Scham,
Am Weg zu handeln mit dem Bettelkind?
Eh meine Hand zu meiner Börse kam,
Verscholl das Stimmlein hinter mir im Wind.
Doch als ich endlich war mit mir allein,
Erfaßte mich die Angst im Herzen so,
Als säß mein eigen Kind auf jenem Stein
Und schrie nach Brot, indessen ich entfloh.