Lyrik ~ Klinge
    Versuch einer Dichtung            

23 
 August 
 
2012


 

DICHTUNG Gottfried Benn
LESUNG Gottfried Benn



Blüht nicht zu früh, ach blüht erst, wenn ich komme,
dann sprüht erst euer Meer und euren Schaum,
Mandeln, Forsythien, unzerspaltene Sonne —
dem Tal den Schimmer und dem Ich den Traum.

Ich, kaum verzweigt, im Tiefen unverbunden,
Ich, ohne Wesen, doch auch ohne Schein,
meistens im Überfall von Trauerstunden,
es hat schon seinen Namen überwunden,
nur manchmal fällt er ihm noch flüchtig ein.

So hin und her — ach blüht erst, wenn ich komme,
ich suche so und finde keinen Rat,
daß einmal noch das Reich, das Glück, das fromme,
der abgeschlossenen Erfüllung naht.

 
 
17 
 Juli 
 
2012

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DICHTUNG Ingeborg Bachmann
LESUNG Ingeborg Bachmann
BEREITSTELLUNG wortlover


 

Was wahr ist, streut nicht Sand in deine Augen,
was wahr ist, bitten Schlaf und Tod dir ab
als eingefleischt, von jedem Schmerz beraten,
was wahr ist, rückt den Stein von deinem Grab.

Was wahr ist, so entsunken, so verwaschen
in Keim und Blatt, im faulen Zungenbett
ein Jahr und noch ein Jahr und alle Jahre –
was wahr ist, schafft nicht Zeit, es macht sie wett.

Was wahr ist, zieht der Erde einen Scheitel,
kämmt Traum und Kranz und die Bestellung aus,
es schwillt sein Kamm und voll gerauften Früchten
schlägt es in dich und trinkt dich gänzlich aus.

Was wahr ist, unterbleibt nicht bis zum Raubzug,
bei dem es dir vielleicht ums Ganze geht.
Du bist sein Raub beim Aufbruch deiner Wunden;
nichts überfällt dich, was dich nicht verrät.

Es kommt der Mond mit den vergällten Krügen.
So trinkt dein Maß. Es sinkt die bittre Nacht.
Der Abschaum flockt den Tauben ins Gefieder,
wird nicht ein Zweig in Sicherheit gebracht.

Du haftest in der Welt, beschwert von Ketten,
doch treibt, was wahr ist, Sprünge in die Wand.
Du wachst und siehst im Dunkeln nach dem Rechten,
dem unbekannten Ausgang zugewandt.

 
 
1 
 Februar 
 
2002

abgelegt in
Dionysos' Fest

 

Kaserne zu Samos – 523 v. Chr.

Ich erwache nachtumdämmert, gliedertaub auf fremdem Lager, niedergestreckt von Dionysos’ wohlmundendem, süßen Laster.

Mein sonst so manniggefeiter Geist erlag den wilden, sinnbetörenden Mächten jenes allerorts verehrten Gottes.

Regungsstarr geschlagen vom Zeremoniell nächtlich heiteren Überschwangs, erkundet der noch leicht trunkene Schleierblick umsichtig die unvertraute Stube und gewahrt im mondlichtgetauchten Silberschein die graumatten Schattenrisse türmender Schrankbauten und fremdartig himmelstrebenden Gewächsen: Anmutende Tempelsäulen einer geweihten Kultstätte der besagten Gottheit, mystisch berankt im trüben Nachtesflor sich verkündend.

Der Widerschein befremdet mich und schürt die aufbegehrende Wißbegier :
Welche Mauern bergen mich?

Wes Geschick verschlug mich von Dionysos gehuldigtem Trinkgelage zum befindlichen Bettgelage unter unmerklicher Entledigung meines Schuhwerks?

Und diesmal – außerhalb der gewohnten Reihe nach gefrönten Freudenfesten – wer schlummert befriedeter Seele neben mir seinen unsündigen Schlaf?

Letztere Frage und für mich von unmittelbarem Wissensdrang: Mir schwant keines Soldaten Haupt !
Die düsteren Lichtverhältnisse bürgen keineswegs für äußerliche, für das forschende Auge wahrnehmbare Erkennungsmerkmale.

Vielversprechender frommt die atmosphärische Erscheinung zum Erspüren des meintlichen Wesens.
Im vorliegenden Fall bedeutet das: Mild entfleuchender Odem, ein behaglicher, wohlduftender Hauch wonnigster Empfindung, dann die teilende Gesinnung beim Überlassen einer wärmenden Schlafdecke, also keineswegs Beiwerk männlicher Gegenwart, vielmehr der Anwesenheit weiblicher Umsorgung.

Männer leiden nämlich meistens unter nächtlichen Dyspnoen (Atembeschwerden), Schnarchen im Galeerenstakt ihrer sinnzerfetzten Traumbilder, entsteigt Mundgeruch aus fauler Rachengrotte und räumen einem Geschlechtsgenossen ungern anteilige Nutzung des Nachtlagers ein.

Die mittlerweile erspähte kurze Haarestracht läßt mich verdachterhärtend Chloris vermuten, eine platonische Spielgesellin unweit der Dorfsiedlung mit geschmeidigem Gebärdenspiel und schöngeistiger Seele, deren wogenschlagender Liebreiz mich nun in diesem Moment seligster Gefilde mit bebendem Verlangen erfaßte.

Näheres Beäugen und vor allem Vergegenwärtigung des Vorabends lassen allerdings ernüchternd Polydor erkennen.
Polydor, dessen mitfühlendem Herzen ich mich durch Dionysos’ Drangsal schicksalshadernd unter Tränenfluß anvertraute, bevor mich Morpheus ereilte und in seine Liebesarme brüstend barg.

Der weitere Verlauf entzog sich dem Reich meiner Wahrnehmung, als Polydor mich sanft bettete, neben dem ich nun geklärteren Sinnes erwachte – mit waltender Geborgenheit, die so gegensätzlich zu den weingenährten Wirren des verflossenen Abends stand.

Aus dem Gestrüpp noch wuchernder, wirrer Gedanken entringt sich die treibende Blüte reiferer Vernunft:
Dionysos’ balsamischer Zauber, des Weines geistbeflügelnde Gabe, die der frostgeplagten Seele in berauschten Wonnestunden wärmespendende Glückseligkeit verheißt und doch nach entsandtem Sinnestaumel mich wieder in den krallen Würgegriff eiser Schicksalslaune treulos entläßt, der mich nach kühnem, leichten Geistesfluge bleiern auf der Erde Grund zerschellend schmettert:

Ist er Geliebte oder Hure meines Geistes, Himmelssteige oder Abgrund mir?
Strafft oder stutzt er meines Geistes Gefieder?

Dionysos, Du närrender Gott, mit Trugbildern falscher Wonnen prahlest Du geistestrübend auf der Bühne niederster Spielart!

Doch allmählich weicht die trunkene Benommenheit, ich raffe mich torkelnd auf, spähe mit tastenden Händen nach meinen Sandalen, verschnüre sie mit ungeschickter Fertigkeit, entlaufe jener Bühne des abendlichen Geschehens und trete in den dämmernden, vögelbeschallten Morgenstunden meinen verwaisten Heimgang an.

Aurora entflammt und jähe scheint die Erde zu erbeben von fernem Hufgestampfe.

Oh, Gott der trügenden Sinne, Deinem Narrenspiele sei’s gelohnt!
Fürwahr erlausche ich in der Steppe gähnender Leere schauernd voller Unbehagen den bebenden Donner anrückender Streiteswagen und erspähe türmende Feindesheere mit bangem Gemüt und angstgeschürt, wo bloße Einöde mir entgegen stiert…

Dem Gaukelspiel meiner Sinne gewiß, frohlocke ich unerschüttert des jungen Tages lichte Stunden, dem steigenden Flimmerglanz am Horizonte lächelnd entgegen … und gewahre ihn als Blendwerk bronzerner Schilde!

Erst jetzt stirbt mein purpurnes Lächeln auf bleicher Wange…