Lyrik ~ Klinge
    Versuch einer Dichtung            

2 
 November 
 
2019


 

DICHTUNG Friedrich Nietzsche
LESUNG gedichtvortrag
BEREITSTELLUNG gedichtvortrag



Noch einmal, eh ich weiter ziehe
und meine Blicke vorwärts sende,
heb’ ich vereinsamt meine Hände
zu dir empor, zu dem ich fliehe,
dem ich in tiefster Herzenstiefe
Altäre feierlich geweiht,
daß allezeit
mich deine Stimme wieder riefe.

Darauf erglüht tiefeingeschrieben
das Wort: dem unbekannten Gotte.
Sein bin ich, ob ich in der Frevler Rotte
auch bis zur Stunde bin geblieben:
sein bin ich – und ich fühl’ die Schlingen,
die mich im Kampf darniederziehn
und, mag ich fliehn,
mich doch zu seinem Dienste zwingen.

Ich will dich kennen, Unbekannter,
du tief in meine Seele Greifender,
mein Leben wie ein Sturm Durchschweifender
du Unfaßbarer, mir Verwandter!
Ich will dich kennen, selbst dir dienen.

Entstanden 1864

 
 
4 
 Januar 
 
2019

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Lutz Görner lädt uns zu einer literarischen Reise ein

 

Fritz Katzfuß (2:38)
Theodor Fontane (1819 – 1898)
Fritz Katzfuß war ein siebzehnjähr’ger Junge,
Rothaarig, sommersprossig, etwas faul
Und stand in Lehre bei der Wittwe Marzahn,
Die geizig war und einen Laden hatte,
Drin Hering, Schlagwurst, Datteln, Schweizerkäse,
Sammt Pumpernickel, Lachs und Apfelsinen
Ein friedlich Dasein mit einander führten.
Und auf der hohen, etwas schmalen Leiter,
Mit ihren halb schon weggetret’nen Sprossen,
Sprang unser Katzfuß, wenn die Mädchen kamen,
Und Soda, Waschblau, Gries, Korinthen wollten,
Geschäftig hin und her.
                Ja, sprang er wirklich?
Die Wahrheit zu gestehn, das war die Frage.
Die Mädchen, deren Schatz oft draußen paßte,
Vermeinten ganz im Gegentheil, „er nöle,“
Sei wie verbiestert und durchaus kein „Katzfuß“.
Im Laden, wenn Frau Marzahn auf ihn passe,
Da ging’ es noch, wenn auch nicht grad’ aufs Beste,
Das Schlimme käm’ erst, wenn er wegen Selter-
Und Sodawasser in den Keller müsse,
Das sei dann manchmal gradzu zum Verzweifeln,
Und wär’ er nicht solch herzensguter Junge,
Der nie was sage, nie zu wenig gebe,
Ja, meistens, daß die Wagschal’ überklappe,
So wär’s nicht zu beleben.
                Und nicht besser
Klang, was die Herrin selber von ihm sagte,
Die Wittwe Marzahn. „Wo der dumme Junge
Nur immer steckt? Hier vorne muß er flink sein,
Doch soll er über’n Hof und auf den Boden,
So dauert’s ewig, und ist gar Geburtstag
Von Kaiser Wilhelm oder Sedanfeier
Und soll der Stock ’raus mit der preuß’schen Fahne
(Mein selger Marzahn war nicht für die deutsche),
Fritz darf nicht ’rauf, – denn bis Dreiviertelstunden
Ist ihm das Mind’ste.“
                
So sprach Wittwe Marzahn
Und kurz und gut, Fritz Katzfuß war ein Räthsel,
Und nur das Eine war noch räthselvoller,
Daß, wie’s auch drohn und donnerwettern mochte,
Ja, selbst wenn Blitz und Schlag zusammenfielen,
Daß Fritz nie maulte, greinte, wüthend wurde;
Nein, unverändert blieb sein stilles Lächeln
Und schien zu sagen: „Arme Kreaturen,
Ihr glaubt mich dumm, ich bin der Ueberlegne.
Kramladenlehrling! Eure Welt ist Kram,
Und wenn ihr Waschblau fordert oder Stärke,
Blaut zu, so viel ihr wollt. Mein Blau der Himmel.“

So ging die Zeit und Fritz war wohl schon siebzehn;
Ein Oxhoft Apfelwein war angekommen
Und lag im Hof. Von da sollt’s in den Keller.
Fritz schlang ein Tau herum und weil die Hitze
Groß war und drückend, was er wenig liebte,
So warf er seinen Shirting-Rock bei Seite,
Nicht recht geschickt, so daß der Kragenhängsel
Nach unten hing. Und aus der Vordertasche
Glitt was heraus und fiel zur Erde. Lautlos.
Fritz merkt’ es nicht. Die Wittwe Marzahn aber
Schlich sich heran und nahm ein Buch (das war es)
Vom Boden auf und sah hinein: „Gedichte.
Gedichte, 1. Theil, von Wolfgang Goethe.“
Zerlesen war’s und schlecht und abgestoßen
Und Zeichen eingelegt: ein Endchen Strippe.
Briefmarkenränder, und als dritt’ und letztes
(Zu glauben kaum), ein Streifen Schlagwurstpelle,
Die Seiten links und rechts befleckt, befettet,
Und oben stand, nun was? stand „Mignonlieder“,
Und Wittwe Marzahn las: „Dahin, dahin
Möcht’ ich mit Dir, o mein Geliebter, ziehn.“
    Nun war es klar. Um so ’was träg und langsam,
Um Goethe, Verse, Mignon.
Armer Lehrling,
Ich weiß Dein Schicksal nicht, nur eines weiß ich:
Wie Dir die Lehrzeit hinging bei Frau Marzahn,
Ging mir das Leben hin. Ein Band von Goethe
Blieb mir bis heut mein bestes Wehr und Waffen,
Und wenn die Wittwe Marzahns mich gepeinigt,
Und dumme Dinger, die nach Waschblau kamen,
Mich langsam fanden, kicherten und lachten,
Ich lächelte, grad so wie Du gelächelt,
Fritz Katzfuß, Du mein Ideal, mein Vorbild.
Der Band von Goethe gab mir Kraft und Leben,
Vielleicht auch Dünkel … All genau dasselbe,
Nur andres Haar und – keine Sommersprossen.
 
 
30 
 Dezember 
 
2018

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Lutz Görner lädt uns zu einer literarischen Reise ein

 

Grashalme (Leaves of grass) (0:35)
Walt Whitman (1819 – 1892)
Ihr in den fremden Ländern, in Europa!
Ich hörte, dass ihr wünscht,
Dass ich euch dies Rätsel, die neue Welt, erkläre.
Amerika und seine athletische Demokratie!
So sende ich euch denn meine Gedichte,
Damit ihr in ihnen schaut,
Wonach ihr verlangt.
Denn in euch allen,
Pulst Leben, Stolz, Liebe,
Genau wie in mir.
So seien Euch meine Lieder geweiht.
Grashalme (Leaves of grass) (3:07)
Walt Whitman (1819 – 1892)
Ich singe über mich und mein schlichtes, mein einzelnes Wesen.
Ich feiere mich selbst und singe mich selbst.
Doch ich singe auch über Demokratie und die Vielen.
Denn jedes Atom, das mir gehört, es gehört ja auch dir.
Und was ich mir nehme, das sollst auch du dir nehmen.
Ich schlendre dahin und lad meine Seele zu Gast.
Ich neige mich, schlendre behaglich dahin,
Einen Halm grünen Sommergrases betrachtend.
Ich singe das Leben, unermesslich in Leidenschaft,
Pulsschlag und Kraft, heiter zu freiester Tat,
Geformt nach Gottes Gesetz.
Ich singe das Weibliche ebenso wie ich das Männliche singe.
Ich singe den heutigen, singe den neuen, den amerikanischen Menschen.
Grashalme (Leaves of grass) (4:36)
Walt Whitman (1819 – 1892)
Du Hottentott mit schnalzendem Gaumen! Ihr wollhaarigen Horden!
Ihr Leibeigenen, die ihr von Schweiß oder Blut trieft!
Ihr Elenden, verachtet selbst vom Niedrigsten der anderen!
Du zwerghafter Kamtschakale, Grönländer, Lappe!
Du Australneger, der du nackt, roh, schmutzig, mit vorragender Lippe, schleichend deine
Nahrung suchst!
Du Kaffer, Berber, Sudanese!
Du hagerer, ungeschlachter, unwissender Beduine!
Du seuchenbehaftetes Gewimmel in Madras, Nanking, Kabul, Kairo!
Du umnachteter Nomade von Amazonien!
Du Patagonier! Du Fidschi-Insulaner!
Ich ziehe keinen dem andern vor!
Ich sage kein Wort gegen euch dort hinten, wo ihr jetzt steht!
Ihr werdet zur richtigen Zeit vorwärts und an meine Seite kommen!
Ich glaube, irgendein göttlicher Einfluss hat mich euch gleichgestellt.
Auf der Halbinsel, hier in Manahatta,
Steh ich, auf dem hohen Felsen New York,
Um von dort auszurufen: Salut au monde! – Welt sei gegrüßt!
Zu euch allen in Amerikas Namen.
Senkrecht heb ich die Hand empor, gebe das Signal,
Für alle Orte und Wohnungen der Menschen.
Captain, my captain (7:44)
Walt Whitman (1819 – 1892)
O Captain! My Captain!
Our fearful trip is done.
The ship has weathered every rack,
The prize we sought is won.
O Captain! My Captain!
Rise up and hear the bells.
Rise up – for you the flag is flung –
For you the bugle trills.
My Captain does not answer,
His lips are pale and still.
My father does not feel my arm,
He has no pulse nor will.
The ship is anchored safe and sound,
Its voyage closed and done.
From fearful trip, the victor ship,
Comes in with object won.
Exult, o shores, and ring, o bells!
But I, with mournful tread,
Walk the deck my Captain lies,
Fallen cold and dead.

Übersetzung von Ferdinand Freiligrath

O Kapitän! Mein Kapitän!
Gefahr und Fahrt ist aus.
Das Schiff besiegte Sturm und Riff
Und bringt den Sieg nach Haus.
O Kapitän! Mein Kapitän!
Steh auf, vernimm die Glocken!
Steh auf! Für dich Trompetenschall,
Der Fahnen frohes Locken!
Mein Kapitän gibt Antwort nicht,
Sein Mund ist fahl und stille.
Mein Vater fühlt nicht meinen Arm,
Ihm stocken Puls und Wille.
Das Schiff vor Anker gut und fest.
Die fahrt getan und aus.
Trotz Not und Sturm, das Siegerschiff
Bringt den Preis nach Haus.
Ach, jauchzt nur, Ufer! Glocken, schallt!
Doch ich, in Schmerz und Not,
Geh noch auf Deck, wo mein Kapitän liegt,
Gefallen, kalt und tot.