Lyrik ~ Klinge
    Versuch einer Dichtung            

30 
 Dezember 
 
2018

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Lutz Görner lädt uns zu einer literarischen Reise ein

 

Grashalme (Leaves of grass) (0:35)
Walt Whitman (1819 – 1892)
Ihr in den fremden Ländern, in Europa!
Ich hörte, dass ihr wünscht,
Dass ich euch dies Rätsel, die neue Welt, erkläre.
Amerika und seine athletische Demokratie!
So sende ich euch denn meine Gedichte,
Damit ihr in ihnen schaut,
Wonach ihr verlangt.
Denn in euch allen,
Pulst Leben, Stolz, Liebe,
Genau wie in mir.
So seien Euch meine Lieder geweiht.
Grashalme (Leaves of grass) (3:07)
Walt Whitman (1819 – 1892)
Ich singe über mich und mein schlichtes, mein einzelnes Wesen.
Ich feiere mich selbst und singe mich selbst.
Doch ich singe auch über Demokratie und die Vielen.
Denn jedes Atom, das mir gehört, es gehört ja auch dir.
Und was ich mir nehme, das sollst auch du dir nehmen.
Ich schlendre dahin und lad meine Seele zu Gast.
Ich neige mich, schlendre behaglich dahin,
Einen Halm grünen Sommergrases betrachtend.
Ich singe das Leben, unermesslich in Leidenschaft,
Pulsschlag und Kraft, heiter zu freiester Tat,
Geformt nach Gottes Gesetz.
Ich singe das Weibliche ebenso wie ich das Männliche singe.
Ich singe den heutigen, singe den neuen, den amerikanischen Menschen.
Grashalme (Leaves of grass) (4:36)
Walt Whitman (1819 – 1892)
Du Hottentott mit schnalzendem Gaumen! Ihr wollhaarigen Horden!
Ihr Leibeigenen, die ihr von Schweiß oder Blut trieft!
Ihr Elenden, verachtet selbst vom Niedrigsten der anderen!
Du zwerghafter Kamtschakale, Grönländer, Lappe!
Du Australneger, der du nackt, roh, schmutzig, mit vorragender Lippe, schleichend deine
Nahrung suchst!
Du Kaffer, Berber, Sudanese!
Du hagerer, ungeschlachter, unwissender Beduine!
Du seuchenbehaftetes Gewimmel in Madras, Nanking, Kabul, Kairo!
Du umnachteter Nomade von Amazonien!
Du Patagonier! Du Fidschi-Insulaner!
Ich ziehe keinen dem andern vor!
Ich sage kein Wort gegen euch dort hinten, wo ihr jetzt steht!
Ihr werdet zur richtigen Zeit vorwärts und an meine Seite kommen!
Ich glaube, irgendein göttlicher Einfluss hat mich euch gleichgestellt.
Auf der Halbinsel, hier in Manahatta,
Steh ich, auf dem hohen Felsen New York,
Um von dort auszurufen: Salut au monde! – Welt sei gegrüßt!
Zu euch allen in Amerikas Namen.
Senkrecht heb ich die Hand empor, gebe das Signal,
Für alle Orte und Wohnungen der Menschen.
Captain, my captain (7:44)
Walt Whitman (1819 – 1892)
O Captain! My Captain!
Our fearful trip is done.
The ship has weathered every rack,
The prize we sought is won.
O Captain! My Captain!
Rise up and hear the bells.
Rise up – for you the flag is flung –
For you the bugle trills.
My Captain does not answer,
His lips are pale and still.
My father does not feel my arm,
He has no pulse nor will.
The ship is anchored safe and sound,
Its voyage closed and done.
From fearful trip, the victor ship,
Comes in with object won.
Exult, o shores, and ring, o bells!
But I, with mournful tread,
Walk the deck my Captain lies,
Fallen cold and dead.

Übersetzung von Ferdinand Freiligrath

O Kapitän! Mein Kapitän!
Gefahr und Fahrt ist aus.
Das Schiff besiegte Sturm und Riff
Und bringt den Sieg nach Haus.
O Kapitän! Mein Kapitän!
Steh auf, vernimm die Glocken!
Steh auf! Für dich Trompetenschall,
Der Fahnen frohes Locken!
Mein Kapitän gibt Antwort nicht,
Sein Mund ist fahl und stille.
Mein Vater fühlt nicht meinen Arm,
Ihm stocken Puls und Wille.
Das Schiff vor Anker gut und fest.
Die fahrt getan und aus.
Trotz Not und Sturm, das Siegerschiff
Bringt den Preis nach Haus.
Ach, jauchzt nur, Ufer! Glocken, schallt!
Doch ich, in Schmerz und Not,
Geh noch auf Deck, wo mein Kapitän liegt,
Gefallen, kalt und tot.
 
 
2 
 Juni 
 
2015

abgelegt in
Weinheber, Josef
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Dunkles, gruftdunkles U, samten wie Juninacht!
Glockentöniges O, schwingend wie rote Bronze:
Groß – und Wuchtendes malt ihr:
Ruh und Ruhende, Not und Tod.

Zielverstiegenes I, Himmel im Mittaglicht,
zitterndes Tirili, das aus der Lerche quillt:
Lieb, ach Liebe gewittert
flammenzüngig aus deinem Laut.

E im Weh und im Schnee, grell und wie Messer jäh
schreckst das Herz du empor, aber wie Balsam legt
labend auf das verzagte
sich das Amen des klaren A.

Bebend wagt sich das B aus einer Birke Bild.
Federfein und ganz Mund, flaumig wie Frühlingsduft,
flötenfriedlich, ach fühl im
F die sanften Empfindungen!

Doch das girrende G leiht schon den runden Gaum
ihr, der Gier – – und das Glück, treulos und immer glatt,
es entgleitet den Gatten,
eh sich wandelt der Rausch in Scham;

eh das H mit der Kraft heiliger Höhe heilt
das gebrochene Herz. Denn ob ein Buchstab nur,
H ist hoh: Allen Lebens
Atem ist sein erhabener Hauch.

Hauch, entstoßen der Brust, wildes empörtes K,
das voransteht der Kraft, das uns den Kampf befiehlt:
Gott ist milde und läßt dir
leise folgen der Liebe L.

Gab das M uns im Mahl, gab uns das Maß, den Mut.
Warm und heimatlich M, wahrhaft Mutterlaut!
Wie so anders dein Nachbar,
hat das N nur ein näselnd Nein.

Springt das P im Galopp über Gestrüpp und Klipp,
löst sich Lippe von Lipp, und das hochherr’sche R
dreht, ein Reaktionär, das
Rad zurück und beraubt uns rasch.

Schwarze Luft, und sie dröhnt von der Drommeten Zorn,
und im Sturm steht das S, sausend und steil und stark,
und es zischen die Wasser
schäumend über Ertrinkende.

Doch das schreckliche Wort, tönend wie Tubaton,
formt schon das doppelte T. Treffendstes, tiefstes Wort:
tot.. Wer fände noch Trost nach
solchem furchtbaren Eisentritt?

Aber Gott will uns gut, gab auch das weiche W,
das wie wohliger Wind über das Weinen weht.
Gab das Z uns: Es schließt den
Tanz, den Glanz und die Herzen zu.

 
 
12 
 April 
 
2012

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Lutz Görner lädt uns zu einer literarischen Reise ein

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Legende (2:04)
Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832)

Als noch verkannt und sehr gering
Unser Herr auf der Erde ging.
Und viele Jünger sich zu ihm fanden,
Die sehr selten sein Wort verstanden,
Liebt er sich gar über die Maßen
Seinen Hof zu halten auf der Straßen,
Weil unter des Himmels Angesicht
Man immer besser und freier spricht.
Er ließ sie da die höchsten Lehren
Aus seinem heiligen Munde hören.
Besonders durch Gleichnis und Exempel
Macht er einen jeden Markt zum Tempel.

So schlendert er in Geistes Ruh
Mit ihnen einst einem Städtchen zu,
Sah etwas blinken auf der Straß,
Das ein zerbrochen Hufeisen was.
Er sagte zu Sankt Peter drauf:
»Peter, heb doch einmal das Hufeisen auf!«
Sankt Peter war nicht aufgeräumt.
Er hatte soeben im Gehen geträumt.
So was vom Regiment der Welt,
Was einem jeden wohlgefällt,
Denn im Kopf hat das keine Schranken.
Das waren so seine liebsten Gedanken.
Auch war der Fund ihm viel zu klein,
Hätte müssen Kron und Szepter sein.
Aber wie sollt er seinen Rücken
Nach einem halben Hufeisen bücken?
Er also sich zur Seite kehrt
Und tut, als hätt ers nicht gehört.

Der Herr, nach seiner Langmut drauf,
Hebt selber das Hufeisen auf
Und tut auch weiter nicht dergleichen.
Als sie nun bald die Stadt erreichen,
Geht er vor eines Schmiedes Tür,
Nimmt von dem Mann drei Pfennig dafür.
Und als sie über den Markt nun gehen,
Sieht er daselbst schöne Kirschen stehen.
Kauft ihrer so wenig oder so viel,
Als man für einen Dreier geben will,
Die er sodann nach seiner Art
Ruhig im Ärmel aufbewahrt.

Nun gings zum andern Tor hinaus,
Durch Wies und Felder ohne Haus,
Auch war der Weg von Bäumen bloß,
Die Sonne schien, die Hitz war groß,
So dass man viel an solcher Stätt
Für einen Trunk Wasser gegeben hätt.

Der Herr geht immer voraus vor allen,
Lässt unversehens eine Kirsche fallen.
Sankt Peter war gleich dahinter her,
Als wenn es ein goldener Apfel wär.
Das Beerlein schmeckte seinem Gaum.
Der Herr, nach einem kleinen Raum,
Ein ander Kirschlein zur Erde schickt,
Wonach St. Peter schnell sich bückt.
So lässt der Herr ihn seinen Rücken
Gar vielmal nach den Kirschen bücken.
Das dauert eine ganze Zeit.

Dann sprach der Herr mit Heiterkeit:
»Tätst du zur rechten Zeit dich regen,
Hättst dus bequemer haben mögen.
Wer geringe Ding wenig acht,
Sich um geringere Mühe macht.«

 

 
Vor Gericht (5:39)
Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832)

Von wem ich es habe, das sag ich euch nicht,
Das Kind in meinem Leib. –
Pfui! Speit ihr aus: die Hure da! –
Bin doch ein ehrlich Weib.

Mit wem ich mich traute, das sag ich euch nicht.
Mein Schatz ist lieb und gut,
Trägt er eine goldene Kett am Hals,
Trüg er einen strohernen Hut.

Soll Spott und Hohn getragen sein,
Trag ich allein den Hohn.
Ich kenn ihn wohl, er kennt mich wohl,
Und Gott weiß auch davon.

Herr Pfarrer und Herr Amtmann ihr,
Ich bitt Euch, lasst mich in Ruh!
Es ist mein Kind, es bleibt mein Kind,
Ihr gebt mir ja nichts dazu.

 

 
Suleikas Gesang an den Westwind (aus dem West-östlichen Divan) (7:06)
Marianne von Willemer (1784 – 1860)

Ach, um deine feuchten Schwingen,
West, wie sehr ich dich beneide:
Denn du kannst ihm Kunde bringen,
Was ich in der Trennung leide!

Die Bewegung deiner Flügel
Weckt im Busen stilles Sehnen.
Blumen, Augen, Wald und Hügel
Stehn bei deinem Hauch in Tränen.

Doch dein mildes, sanftes Wehen
Kühlt die wunden Augenlider.
Ach, vor Leid müßt ich vergehen,
Hofft ich nicht, wir sehn uns wieder.

Eile denn zu meinem Lieben,
Spreche sanft zu seinem Herzen.
Doch vermeid, ihn zu betrüben,
Und verbirg ihm meine Schmerzen.

Sag ihm, aber sags bescheiden:
Seine Liebe sei mein Leben.
Freudiges Gefühl von beiden
Wird mir seine Nähe geben.

 

 
Selige Sehnsucht (aus dem West-östlichen Divan) (8:27)
Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832)

Sagt es niemand, nur den Weisen,
Weil die Menge gleich verhöhnet,
Das Lebendge will ich preisen,
Das nach Flammentod sich sehnet.

In der Liebesnächte Kühlung,
Die dich zeugte, wo du zeugtest,
Überfällt dich fremde Fühlung,
Wenn die stille Kerze leuchtet.

Nicht mehr bleibest du umfange
In der Finsternis Beschattung,
Und dich reißet neu Verlangen
Auf zu höherer Begattung.

Keine Ferne macht dich schwierig,
Kommst geflogen und gebannt,
Und zuletzt, des Lichts begierig,
Bist du Schmetterling verbrannt.

Und solang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.