Lyrik ~ Klinge
    Versuch einer Dichtung            

8 
 August 
 
2018

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Lutz Görner lädt uns zu einer literarischen Reise ein

 

Das Kind am Brunnen (1:55)
Friedrich Hebbel (1813 – 1863)
Frau Amme, Frau Amme, das Kind ist erwacht!
Doch die liegt ruhig im Schlafe.
Die Vöglein zwitschern, die Sonne lacht,
Am Hügel weiden die Schafe.

Frau Amme, Frau Amme, das Kind steht auf.
Es wagt sich weiter und weiter!
Hinab zum Brunnen nimmt es den Lauf,
Da stehen Blumen und Kräuter.

Frau Amme, Frau Amme, der Brunnen ist tief!
Sie schläft, als läge sie drinnen!
Das Kind läuft schnell, wie es noch nie lief,
Die Blumen lockens von hinnen.

Nun steht es am Brunnen, nun ist es am Ziel.
Nun pflückt es die Blumen sich munter.
Doch bald ermüdet das reizende Spiel.
Da schauts in die Tiefe hinunter.

Und unten erblickt es ein holdes Gesicht,
Mit Augen so hell und so süße.
Es ist sein eignes, doch weiß es das nicht,
Viel stumme, freundliche Grüße!

Das Kindlein winkt. Der Schatten geschwind
Winkt aus der Tiefe ihm wieder.
Herauf! Herauf! So meint es das Kind,
Der Schatten: Hernieder! Hernieder!

Schon beugt es sich über den Brunnenrand.
Frau Amme, du schläfst noch immer!
Da fallen die Blumen ihm aus der Hand
Und trüben den lockenden Schimmer.

Verschwunden ist sie, die süße Gestalt,
Verschluckt von der hüpfenden Welle.
Das Kind durchschauerts fremd und kalt,
Und schnell enteilt es der Stelle.
Der Becher (5:52)
Friedrich Hebbel (1813 – 1863)
Von einem Wunderbecher
Hab ich mit Angst geträumt.
Woraus dem durstgen Zecher
Die höchste Fülle schäumt.
Draus durft ich alles trinken,
Was Erd und Himmel bot.
Doch müsst ich dann versinken
In einen ewgen Tod.

Mit Wonne und mit Grausen
Hielt ich ihn in der Hand.
Ein wundersames Brausen
In seinem Kelch entstand.
Es flog an mir vorüber
Die Welt in Nacht und Glanz
Wie regellos im Fieber
Verworrner Bilder Tanz.

Und als ich länger blickte,
Bis auf den Grund hinein,
Wie Blitzesflamme zückte
Mirs da durch Mark und Bein.
Und, gänzlich drin versunken,
War mir zuletzt zu Sinn,
Als hätt ich schon getrunken
Und schwände nun dahin.
Nachtgefühl (7:30)
Friedrich Hebbel (1813 – 1863)
Wenn ich mich abends entkleide,
Ganz gemach, Stück für Stück,
So tragen die müden Gedanken
Mich vorwärts und manchmal zurück.

Ich denke der alten Tage,
Da zog die Mutter mich aus.
Sie legte mich still in die Wiege.
Die Winde brausten ums Haus.

Ich denke der letzten Stunde,
Da werdens die Nachbarn tun.
Sie senken mich still in die Erde.
Dann werde ich lange ruhn.
 
 
27 
 März 
 
2018


 

DICHTUNG Rainer Maria Rilke
LESUNG Gudrun Landgrebe
BEREITSTELLUNG LYRIK & MUSIK



Ich finde dich in allen diesen Dingen,
denen ich gut und wie ein Bruder bin;
als Samen sonnst du dich in den geringen
und in den großen giebst du groß dich hin.

Das ist das wundersame Spiel der Kräfte,
dass sie so dienend durch die Dinge gehn:
in Wurzeln wachsend, schwindend in die Schäfte
und in den Wipfeln wie ein Auferstehn.

 
 
19 
 Januar 
 
2018


 

DICHTUNG Clemens Brentano
LESUNG Will Quadflieg
BEREITSTELLUNG LYRIK & MUSIK



Sprich aus der Ferne
Heimliche Welt,
Die sich so gerne
Zu mir gesellt.

Wenn das Abendrot niedergesunken,
Keine freudige Farbe mehr spricht,
Und die Kränze still leuchtender Funken
Die Nacht um die schattigte Stirne flicht:

Wehet der Sterne
Heiliger Sinn
Leis durch die Ferne
Bis zu mir hin.

Wenn des Mondes still lindernde Tränen
Lösen der Nächte verborgenes Weh;
Dann wehet Friede. In goldenen Kähnen
Schiffen die Geister im himmlischen See.

Glänzender Lieder
Klingender Lauf
Ringelt sich nieder,
Wallet hinauf.

Wenn der Mitternacht heiliges Grauen
Bang durch die dunklen Wälder hinschleicht,
Und die Büsche gar wundersam schauen,
Alles sich finster tiefsinnig bezeugt:

Wandelt im Dunkeln
Freundliches Spiel,
Still Lichter funkeln
Schimmerndes Ziel.

Alles ist freundlich wohlwollend verbunden,
Bietet sich tröstend und traurend die Hand,
Sind durch die Nächte die Lichter gewunden,
Alles ist ewig im Innern verwandt.

Sprich aus der Ferne
Heimliche Welt,
Die sich so gerne
Zu mir gesellt.