Lyrik ~ Klinge
    Versuch einer Dichtung            

18 
 Dezember 
 
2011

abgelegt in
Gedankenschau

 

In Anspielung auf das Märchen von der wundersamen Speisung der fünftausend “Männer, ohne Frauen und Kinder”.
Märchen???

Von der literarischen Gattung ist die Speisung der 5000 zunächst kein Märchen, sondern ein Gleichnis.
Ein Gleichnis ist laut unserer allzeit beliebten Wikipedia “eine bildhafte rhetorische Figur zur Veranschaulichung eines Sachverhalts mittels eines Vergleichs […] und verfolgt den didaktischen Anspruch, einen komplexen oft theoretischen Sachverhalt in Form einer bildhaften und konkreten Darstellung abzubilden.”
Man wählte also die Sprache des einfachen Landvolks und verlor sich auch nicht in mehrfach verschachtelten Nebensätzen wie es vielfach (auch heute noch) Akademiker tun.

Insofern ist es auch egal, ob es 5000 (Menschen!) waren oder nur lediglich 5.
Es ist auch egal, ob es Tierkadaver (Fische) waren, die sich wundersam vermehrten.
Es hätten genauso gut Äpfel und Birnen sein können.
Oder auch nur Worte, nach denen das Volk damals “hungerte” und “gesättigt” wurde.

Man sollte, sofern Textanalyse mit literaturwissenschaftlichem Ernst betrieben wird, sich vorher über die Textart im klaren sein, um den Text sodann mit der adäquaten “Lesebrille” konzeptionell richtig einzuordnen.

Und genau in diesem Punkt polarisieren sich die Lager.

Auf der einen Seite stehen die fundamentalistischen Christen, die eine 1:1-Übertragung in den Alltag dem Text zumuten und den Textgehalt maßlos überstrapazieren, verfremden, deformieren und meist für ihre eigene Ideologie modifizieren geradezu instrumentalisieren, sich zugleich auf göttliche Legitimation berufen, als letztes Glied der Heilsgeschichte gebärden.

Auf der anderen Seite stehen die Atheisten, die im Grunde dasselbe tun: das geschriebene Wort der Bibel als bare Münze zu nehmen, um dann über den Realitätsverlust der Christenheit abzulästern.

Wenn allgemeiner Spott auf Christen fällt, so kann ich dies rational nachvollziehen.
Wenn aber der Hohn auf die christliche Mythensammlung fällt, so kann ich nur den Kopf schütteln.
Es ist völlig normal, wenn in einem Mythos Gegebenheiten erzählt werden, die über die übliche Alltagserfahrung hinaus gehen, denn dies ist ja wesentlich für die Textgattung “Mythos”.
Darauf sollte sich der Leser auch einlassen oder gleich den Text beiseite legen.
In einem Kinderbuch kommen schließlich auch entgegen der Alltagserfahrung sprechende Tiere vor und Millionen von Eltern lesen ihren Kindern daraus vor.
Kein Mensch zweifelt dann an diesem “Wunder”, weil dieses innerhalb der Textgattung Märchen wiederum “normal” und “legal” ist.
Das “Wunder” ist gattungstypisch und es wäre sogar äußerst befremdlich, wenn keine Tiere sprechen könnten.

Was will ich damit sagen?
Dass sowohl fundamentalistische Christen als auch lästernde, meist auch streitsüchtige Atheisten unter literaturwissenschaftlichem und somit rationalem Gesichtspunkt eine äußerst fragwürdige Menschengruppierung darstellen, da sie den Kern einer Textaussage in ihrem eigentlichen Wesen verkennen.

Insofern bin ich ein großer Bewunderer des (kirchlich unbearbeiteten) Thomas-Evangeliums, in dem Jesus nicht unbedingt als der leibhaftige Sohn Gottes dargestellt wird. Auch Wundertaten, Kreuzigung, Auferstehung und Himmelfahrt sucht der traditionelle Christ darin umsonst!!!
Jesus tritt als Philosoph auf, in dem sogar der Atheist Friedrich Nitzsche sicherlich einen Lehrmeister gefunden hätte.
Denn die Parallelen von Nitzsches “Übermenschen” (aus: “Also sprach Zarathrustra”) und dem Jesus des Thomas-Evangeliums weisen für mich doch sehr viele Gemeinsamkeiten auf:
Die Kraft zur Veränderung liegt in jedem selbst und bedarf keiner (kirchlichen) Institution.

Nur zum Gelingen, zur Überwindung der egoistischen Natur, der allen Lebewesen innewohnt (biblisches Bild: “Teufel” als kunstvoll gewählte Metapher der Ich-Befriedigung), bedarf es eines höheren Willens/Einsicht/Aufklärung, der häufig entgegen gesellschaftlicher Konventionen läuft.

Nenne es Gott oder Evolution des menschlichen Geistes!
In diesem Sinne an unsere Kirchenväter: Gott (=Evolution) in seiner Vielfältigkeit auf zählbare Seiten zwischen zwei Buchdeckeln zu pressen (Bibel), erscheint mir manchmal schon als Gotteslästerung selbst.

 
 
30 
 August 
 
2011


 


 
Ich finde das Bild des liebevollen, himmlischen Vaters, das Jesus uns im Gleichnis des verlorenen Sohnes gezeichnet hat, weitaus stimmiger, gotteswürdiger und vor allem menschenfreundlicher als die etwas abwegig gekommene “Schäfer”-Metapher Davids in Psalm 23.

Sicherlich ist ein Schäfer bemüht, seine Schafherde zu behüten.
Doch letztlich dient diese Bewahrung nur dem eigensinnlichen Bestreben des Schäfers, den wirtschaftlichen Nutzen seiner Herde zu sichern (in der Banksprache lautet dies: Effektive Verzinsung des eingesetzten Kapitals).
Die wirtschaftliche Nutzung (Wolle, Milch und Fleisch) steht im Vordergrund, nicht der authentisch liebende Bezug.

Während uns also Jesus mit dem Gleichnis vom verlorenen Sohn in die liebenden, herzlich empfangenden Arme des himmlischen Vaters treibt (Amen! so soll es auch sein), treibt der Schäfer in Psalm 23 seine Schutzbefohlenen über kurz oder lang zur Schlachtbank.
Das malerische Schäferidyll der “grünen Auen” und dem “frischen Wasser” von David kann mich aus heutiger Sicht (→Massentierhaltung) nicht gänzlich überzeugen und gereicht schließlich nicht der Hoheit des Gottesbildes.
Aber Christen leben ja nicht mehr unter dem Gesetz (AT), sondern unter der Gnade (NT), der Freiheit, und daher beanspruche ich persönlich für mich das Vaterbild, das uns Jesus vermittelt.

 
 

Ich denke, jeder kann aus den Erzählungen der Bibel jenes für sich persönlich beanspruchen, welches ihm Kraft und Stütze spendet in Zeiten der Not.
Die Geschichten/Metaphern sind letztlich zusammengetragene, geronnene menschliche Erfahrungen zu allen Zeiten der Menschheit und lassen sich oft auf die Gegenwart, auf den gegenwärtig-aktuellen, ganz privaten Kontext übertragen („Übertragung“ von meta-phorein (griech.) „übertragen, übersetzen, transportieren“).
Die Geschichten haben eben nicht an Aktualität verloren (ähnlich wie die Schiller-Dramen), weil sich der Mensch von damals in seiner Grundstruktur nicht wesentlich geändert hat, ebenso die göttlichen, allwaltenden Prinzipien.

Insofern berührt mich auch nicht die Debatte, welche Religion denn nun von welcher abgeschrieben haben könnte, ob sich z.B. der Autor des ATs am durchaus älteren Gilgamesch-Epos bedient hat. Parallelen hierzu gibt es genüge.

Wieso bin ich nicht an “Plagiats-Debatten” interessiert?
Weil es bei religösen Erzählungen immer primär um menschliche Erfahrungen geht.
Weil nämlich nicht nur in jeder religiösen Geschichte eine Ur-Erfahrung mit Gott uns nahe gebracht wird, sondern hinter allem ein Hoher Wille steht, den die Christen “Gott” nennen, die Muslimen “Allah”, die Juden “Jehova”, …

Wer nunmehr behauptet, die Bibel sei eine Ansammlung von Märchengeschichten, der hat mit der falschen “Lesebrille” gelesen und die poetischen Gestaltungsmittel (z.B. Spannungskurven, göttliches Eingreifen) des jeweiligen Autors verkannt, dem es am Herzen lag, nicht die Wirklichkeit 1:1 abzubilden, sondern eine theologische Grundaussage mittels einer einprägsamen Geschichte zu transportieren.

Aber das ist Ansichtssache.
Darüber streiten sich “bibeltreue” und “lauwarme” Christen noch heute.