Lyrik ~ Klinge
    Versuch einer Dichtung            

26 
 Mai 
 
2016

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Lutz Görner lädt uns zu einer literarischen Reise ein

 

Der Blumen Rache (1:30)
Ferdinand Freiligrath (1810 – 1876)
Auf des Lagers weichem Kissen
Ruht die Jungfrau, schlafbefangen.
Tiefgesenkt die braune Wimper,
Purpur auf den heißen Wangen.

Schimmernd auf dem Binsenstuhle
Steht der Kelch, der reichgeschmückte,
Und im Kelche prangen Blumen,
Duftge, bunte, frischgepflückte.

Brütend hat sich dumpfe Schwüle
Durch das Kämmerlein ergossen.
Denn der Sommer scheucht die Kühle,
Und die Fenster sind verschlossen.

Stille. Ringsum tiefes Schweigen!
Plötzlich, horch! Ein leises Flüstern!
In den Blumen, in den Zweigen
Lispelt es und rauscht es lüstern.

Aus den Blütenkelchen schweben
Geistergleiche Duftgebilde.
Ihre Kleider: zarte Nebel.
Kronen tragen sie und Schilde.

Aus dem Purpurschoß der Rose
Hebt sich eine schlanke Frau.
Ihre Locken flattern lose,
Perlen blitzen drin, wie Tau.

Aus dem Helm des Eisenhutes
Mit dem dunkelgrünen Laube
Tritt ein Ritter kecken Mutes.
Hell erglänzt die schwere Haube.

Auf der Haube nickt die Feder
Silbergrau von einem Reiher.
Aus der Lilie schwankt ein Mädchen.
Dünn, wie Spinnweb, ist ihr Schleier.

Aus dem Kelch des Türkenbundes
Ein Osmane kommt gezogen.
Hell auf seinem grünen Turban
Glüht des Halbmonds goldner Bogen.

Prangend aus der Kaiserkrone
Schreitet kühn ein Zepterträger.
Aus der blauen Iris folgen
Schwertbewaffnet seine Jäger.

Aus den Blättern der Narzisse
Schwebt ein Knab mit lüstern Blicken,
Tritt ans Bett, um heiße Küsse
Auf des Mädchens Mund zu drücken.

Da ums Lager drehn und schwingen
Sich die andern wild im Kreise,
Drehn und schwingen sich und singen
Der Entschlafnen diese Weise:

»Mädchen, Mädchen! Von der Erde
Hast du grausam uns gerissen,
Dass wir in der bunten Scherbe
Schmachten, welken, sterben müssen!

O, wie ruhten wir so selig
An der Erde Mutterbrüsten,
Wo, durch grüne Wipfel brechend,
Sonnenstrahlen heiß uns küssten.

Wo wir Frühlingslüfte fühlten,
Unsre schlanken Stengel zeigend.
Wo wir nachts als Elfen spielten,
Unserm Blätterhaus entsteigend.

Hell umfloss uns Tau und Regen.
Jetzt umfließt uns trübe Lache.
Wir verblühn ! Doch eh wir sterben,
Mädchen! Trifft dich unsre Rache!«

Welch ein Rauschen, welch ein Raunen!
Wie des Mädchens Wangen glühen!
Wie die Blumen es anhauchen!
Wie die Düfte wallend ziehen!

Da begrüßt der Sonne Funkeln
Das Gemach. Die Geister weichen.
Auf des Lagers Kissen schlummert
Kalt die lieblichste der Leichen!

Eine welke Blume selber,
Noch die Wange sanft gerötet,
Ruht sie bei den welken Schwestern.
Blumenduft hat sie getötet.

 
 
5 
 März 
 
2016

abgelegt in
Gibran, Khalil

 

Weisheit von Khalil Gibran aus: “Der Prophet”


DICHTUNG Khalil Gibran
LESUNG Otto Sander
REALISIERUNG Andreas Lucas
BEREITSTELLUNG LYRIK & MUSIK



Und er antwortete: Eure Freude ist euer Leid ohne Maske. Und derselbe Brunnen, aus dem euer Lachen aufsteigt, war oft von euren Tränen erfüllt. Und wie könnte es anders sein? Je tiefer sich das Leid in euer Sein eingräbt, desto mehr Freude könnt ihr fassen.
Ist nicht der Becher, der euren Wein enthält, dasselbe Gefäß, das im Ofen des Töpfers brannte? Und ist nicht die Laute, die euren Geist besänftigt, dasselbe Holz, das mit Messern ausgehöhlt wurde? Wenn ihr fröhlich seid, schaut tief in eure Herzen, und ihr werdet finden, dass nur das, was euch Leid bereitet hat, euch auch Freude gibt. Wenn ihr traurig seid, schaut wieder in eure Herzen, und ihr werdet sehen, dass die Wahrheit um das weint, was euch Vergnügen bereitet hat.
Einige von euch sagen: “Freude ist größer als Leid”, und andere sagen: “Nein, Leid ist größer.” Aber ich sage euch, sie sind untrennbar. Sie kommen zusammen, und wenn einer allein mit euch am Tisch sitzt, denkt daran, dass der andere auf eurem Bett schläft. Wahrhaftig, wie die Schalen einer Waage hängt ihr zwischen eurem Leid und eurer Freude. Und wenn ihr leer seid, steht ihr still und im Gleichgewicht. Wenn der Schatzhalter euch hochhebt, um sein Gold und sein Silber zu wiegen, muss entweder eure Freude oder euer Leid steigen oder fallen.

-leicht veränderte Fassung-

 
 
15 
 März 
 
2013


 

Des Menschen Seele gleicht dem Wasser:
Vom Himmel kommt es, zum Himmel steigt es,
und wieder nieder zur Erde muß es, ewig wechselnd.

Strömt von der hohen, steilen Felswand der reine Strahl,
dann stäubt er lieblich in Wolkenwellen zum glatten Fels,
und leicht empfangen, wallt er verschleiernd,
leisrauschend zur Tiefe nieder.

Ragen Klippen dem Sturz entgegen,
schäumt er unmutig stufenweise zum Abgrund.

Im flachen Bette schleicht er das Wiesental hin,
und in dem glatten See weiden ihr Antlitz alle Gestirne.

Wind ist der Welle lieblicher Buhler;
Wind mischt vom Grund aus schäumende Wogen.

Seele des Menschen, wie gleichst du dem Wasser!
Schicksal des Menschen, wie gleichst du dem Wind!

 

Textdichter Johann Wolfgang von Goethe
Lesung Ulrich Mühe
Bereitstellung 59Berger