Lyrik ~ Klinge
    Versuch einer Dichtung            

29 
 Juni 
 
2018


 

DICHTUNG Rainer Maria Rilke
LESUNG Gudrun Landgrebe
BEREITSTELLUNG wortlover



Ich bin derselbe noch, der kniete
vor dir in mönchischem Gewand:
der tiefe, dienende Levite,
den du erfüllt, der dich erfand.
Die Stimme einer stillen Zelle,
an der die Welt vorüberweht, –
und du bist immer noch die Welle
die über alle Dinge geht.

Es ist nichts andres. Nur ein Meer,
aus dem die Länder manchmal steigen.
Es ist nichts andres denn ein Schweigen
von schönen Engeln und von Geigen,
und der Verschwiegene ist der,
zu dem sich alle Dinge neigen,
von seiner Stärke Strahlen schwer.

Bist du denn Alles, – ich der Eine,
der sich ergiebt und sich empört?
Bin ich denn nicht das Allgemeine,
bin ich nicht Alles, wenn ich weine,
und du der Eine, der es hört?

Hörst du denn etwas neben mir?
Sind da noch Stimmen außer meiner?
Ist da ein Sturm? Auch ich bin einer,
und meine Wälder winken dir.

Ist da ein Lied, ein krankes, kleines,
das dich am Micherhören stört, –
auch ich bin eines, höre meines,
das einsam ist und unerhört.

Ich bin derselbe noch, der bange
dich manchmal fragte, wer du seist.
Nach jedem Sonnenuntergange
bin ich verwundet und verwaist,
ein blasser Allem Abgelöster
und ein Verschmähter jeder Schar,
und alle Dinge stehn wie Klöster,
in denen ich gefangen war.
Dann brauch ich dich, du Eingeweihter,
du sanfter Nachbar jeder Not,
du meines Leidens leiser Zweiter,
du Gott, dann brauch ich dich wie Brot.
Du weißt vielleicht nicht, wie die Nächte
für Menschen, die nicht schlafen, sind:
da sind sie alle Ungerechte,
der Greis, die Jungfrau und das Kind.
Sie fahren auf wie totgesagt,
von schwarzen Dingen nah umgeben,
und ihre weißen Hände beben,
verwoben in ein wildes Leben
wie Hunde in ein Bild der Jagd.
Vergangenes steht noch bevor,
und in der Zukunft liegen Leichen,
ein Mann im Mantel pocht am Tor,
und mit dem Auge und dem Ohr
ist noch kein erstes Morgenzeichen,
kein Hahnruf ist noch zu erreichen.
Die Nacht ist wie ein großes Haus.
Und mit der Angst der wunden Hände
reißen sie Türen in die Wände, –
dann kommen Gänge ohne Ende,
und nirgends ist ein Tor hinaus.

Und so, mein Gott, ist jede Nacht;
immer sind welche aufgewacht,
die gehn und gehn und dich nicht finden.
Hörst du sie mit dem Schritt von Blinden
das Dunkel treten?
Auf Treppen, die sich niederwinden,
hörst du sie beten?
Hörst du sie fallen auf den schwarzen Steinen?
Du musst sie weinen hören; denn sie weinen.

Ich suche dich, weil sie vorübergehn
an meiner Tür. Ich kann sie beinah sehn.
Wen soll ich rufen, wenn nicht den,
der dunkel ist und nächtiger als Nacht.
Den Einzigen, der ohne Lampe wacht
und doch nicht bangt; den Tiefen, den das Licht
noch nicht verwöhnt hat und von dem ich weiß,
weil er mit Bäumen aus der Erde bricht
und weil er leis
als Duft in mein gesenktes Angesicht
aus Erde steigt.

 
 
31 
 Oktober 
 
2017

abgelegt in
Poe, Edgar Allan

 

DICHTUNG Edgar Allan Poe
LESUNG Dero Goi


 

Anmerkung: Ein Wanderer erzählt vom Traumland, das von einer Statue namens NACHT beherrscht wird und jenseits von Zeit und Raum liegt. Es ist eine Landschaft der Imagination: kalt, abweisend, nichts hat Bestand, und Leichengeister hausen hier. Dies ist die traurige Vergangenheit, die Erinnerung an verlorene Freunde. Doch für das leidende Herz und den umschatteten Geist ist diese Region ein goldenes Eldorado voll Frieden und Besänftigung. Doch der König NACHT hat verboten, dieses Land mit offenen Augen zu schauen.

Quelle: Lyrik & Musik

Dieser Weg war seltsam und verlassen,
nur von bösen Engeln heimgesucht,
wo ein Trugbild namens Nacht als König, stolz auf einem schwarzen Thron regiert.

Diesen Landstrich habe ich vor kurzem erst erreicht,
vom düsteren Thule her.
Eine wilde wundersame Gegend,
außerhalb der Macht von Raum und Zeit

Tiefe Täler, grenzenlose Fluten, Klüfte, Höhlen, ewig weite Wälder,
Formen, die sich nicht entdecken lassen,
weil die Tränen das Gesicht bedecken.
Berge stürzen immer wieder in die Meere ohne Küste.
Meere, die beständig wogen und zu Feuerhimmeln streben.
Grenzenlose Seen verbreiten leise unaufhaltsam stilles,
totes Wasser.
Wasser, das so einsam, still und kalt unterm Schnee der Wasserlilien liegt.

An den Seen, die ihre Wasserfluten ewig wachsen lassen,
still und tot.
Ihre Wellen liegen kalt und trostlos unterm Schnee der weißen Wasserlilien.
Bei den Bergen, gar nicht weit vom Fluss, dessen Fluten wie geknebelt murmeln.
Bei den grauen Wäldern und beim Sumpf,
darin Molch und Kröte Obdach finden.
Bei den trüben Seen und tiefen Löchern,
wo die Leichengeister gerne hausen.
Bei dem Ort der nur dem Unheil dient
und in jedem angstgefüllten Winkel,
da trifft nun der bleiche Reisende die verblassten Bilder der Vergangenheit.

Leichentuchverhüllte Formen seufzen,
als sie ihn mit ihrem Hauch berühren.
Weiße Formen, die vor langer Zeit und mit Schmerzen freigelassen wurden.
Für das Herz, das ohne Ende leidet
ist dies eine sanfte schöne Gegend.
Für den Geist, der stehts im Schatten geht,
ist es – oh – es ist ein goldenes Land.
Aber wer dies dunkle Land bereist, fürchtet sich es offen zu betrachten.
Und so werden seine vielen Rätseln niemals einem schwachen Menschenauge offenbart.
So sagt es der König, der verbot, dass die Wimpern von den Augen weichen.
Und so sieht die Seele, die vorübergeht
alles nur wie hinter Eisengittern.
Diesen Weg, so seltsam und verlassen,
nur von bösen Engeln heimgesucht,
wo ein Trugbild namens Nacht als König
stolz auf einem schwarzen Thron regiert,
bin ich aus dem dunklen Thule kommend
kürzlich voller Freude heimgewandert.

 
 
26 
 Mai 
 
2016

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Lutz Görner lädt uns zu einer literarischen Reise ein

 

Der Blumen Rache (1:30)
Ferdinand Freiligrath (1810 – 1876)
Auf des Lagers weichem Kissen
Ruht die Jungfrau, schlafbefangen.
Tiefgesenkt die braune Wimper,
Purpur auf den heißen Wangen.

Schimmernd auf dem Binsenstuhle
Steht der Kelch, der reichgeschmückte,
Und im Kelche prangen Blumen,
Duftge, bunte, frischgepflückte.

Brütend hat sich dumpfe Schwüle
Durch das Kämmerlein ergossen.
Denn der Sommer scheucht die Kühle,
Und die Fenster sind verschlossen.

Stille. Ringsum tiefes Schweigen!
Plötzlich, horch! Ein leises Flüstern!
In den Blumen, in den Zweigen
Lispelt es und rauscht es lüstern.

Aus den Blütenkelchen schweben
Geistergleiche Duftgebilde.
Ihre Kleider: zarte Nebel.
Kronen tragen sie und Schilde.

Aus dem Purpurschoß der Rose
Hebt sich eine schlanke Frau.
Ihre Locken flattern lose,
Perlen blitzen drin, wie Tau.

Aus dem Helm des Eisenhutes
Mit dem dunkelgrünen Laube
Tritt ein Ritter kecken Mutes.
Hell erglänzt die schwere Haube.

Auf der Haube nickt die Feder
Silbergrau von einem Reiher.
Aus der Lilie schwankt ein Mädchen.
Dünn, wie Spinnweb, ist ihr Schleier.

Aus dem Kelch des Türkenbundes
Ein Osmane kommt gezogen.
Hell auf seinem grünen Turban
Glüht des Halbmonds goldner Bogen.

Prangend aus der Kaiserkrone
Schreitet kühn ein Zepterträger.
Aus der blauen Iris folgen
Schwertbewaffnet seine Jäger.

Aus den Blättern der Narzisse
Schwebt ein Knab mit lüstern Blicken,
Tritt ans Bett, um heiße Küsse
Auf des Mädchens Mund zu drücken.

Da ums Lager drehn und schwingen
Sich die andern wild im Kreise,
Drehn und schwingen sich und singen
Der Entschlafnen diese Weise:

»Mädchen, Mädchen! Von der Erde
Hast du grausam uns gerissen,
Dass wir in der bunten Scherbe
Schmachten, welken, sterben müssen!

O, wie ruhten wir so selig
An der Erde Mutterbrüsten,
Wo, durch grüne Wipfel brechend,
Sonnenstrahlen heiß uns küssten.

Wo wir Frühlingslüfte fühlten,
Unsre schlanken Stengel zeigend.
Wo wir nachts als Elfen spielten,
Unserm Blätterhaus entsteigend.

Hell umfloss uns Tau und Regen.
Jetzt umfließt uns trübe Lache.
Wir verblühn ! Doch eh wir sterben,
Mädchen! Trifft dich unsre Rache!«

Welch ein Rauschen, welch ein Raunen!
Wie des Mädchens Wangen glühen!
Wie die Blumen es anhauchen!
Wie die Düfte wallend ziehen!

Da begrüßt der Sonne Funkeln
Das Gemach. Die Geister weichen.
Auf des Lagers Kissen schlummert
Kalt die lieblichste der Leichen!

Eine welke Blume selber,
Noch die Wange sanft gerötet,
Ruht sie bei den welken Schwestern.
Blumenduft hat sie getötet.