Lyrik ~ Klinge
    Versuch einer Dichtung            

10 
 April 
 
2018


 

DICHTUNG Rainer Maria Rilke
LESUNG Gert Westphal
BEREITSTELLUNG wortlover



Wir wissen nichts von diesem Hingehn, das
nicht mit uns teilt. Wir haben keinen Grund,
Bewunderung und Liebe oder Haß
dem Tod zu zeigen, den ein Maskenmund

tragischer Klage wunderlich entstellt.
Noch ist die Welt voll Rollen, die wir spielen.
Solang wir sorgen, ob wir auch gefielen,
spielt auch der Tod, obwohl er nicht gefällt.

Doch als du gingst, da brach in diese Bühne
ein Streifen Wirklichkeit durch jenen Spalt
durch den du hingingst: Grün wirklicher Grüne,
wirklicher Sonnenschein, wirklicher Wald.

Wir spielen weiter. Bang und schwer Erlerntes
hersagend und Gebärden dann und wann
aufhebend; aber dein von uns entferntes,
aus unserm Stück entrücktes Dasein kann

uns manchmal überkommen, wie ein Wissen
von jener Wirklichkeit sich niedersenkend,
so daß wir eine Weile hingerissen
das Leben spielen, nicht an Beifall denkend.

 
 
7 
 August 
 
2017

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INTERPRETATION Christoph Hackenberg
QUELLE zeno.org



 

[205]
Willst Du zur Ruhe kommen, flieh, o Freund,
Die ärgste Feindin, die Persönlichkeit!
Sie täuschet Dich mit Nebelträumen, engt
Dir Geist und Herz und quält mit Sorgen Dich,
Vergiftet Dir das Blut und raubet Dir
Den freien Athem, daß Du, in Dir selbst
Verdorrend, dumpf erstickst von eigner Luft.
Sag an: was ist in Dir Persönlichkeit?

Als in der Mutter Schooß von Zweien Du
Das Leben nahmst und, unbewußt Dir selbst,
An fremdem Herzen, eine Pflanze, hingst,
Zum Thier gediehest und ein Menschenkind
(So saget man) die Welt erblicktest: Du
Erblicktest sie noch nicht; sie sahe Dich,
Von Deiner Mutter lange noch ein Theil,
Der ihren Athem, ihre Küsse trank
Und an dem Lebensquell, an ihrer Brust,
Empfindung lernete. Sie trennte Dich
Allmählig von der Mutter, eignete
In tausend der Gestalten Dir sich zu,
In tausend der Gefühle Dich ihr zu,
Den immer Neuen, immer Wechselnden.
Wie wuchs das Kind? Es strebte Fuß und Hand
Und Ohr und Auge spähend, immer neu
Zu formen sich. Und so gediehest Du
Zum Knaben, Jünglinge, zum Mann und Greis.
Im Jünglinge, was war vom Kinde noch?
Was war im Knaben schon vom Greis und Mann?

Mit jedem Alter tauschtest Du Dich um;
Kein Theil des Körpers war derselbe mehr.
Du täuschtest Dich mit Dir; Dein Spiegel selbst
Enthüllte Dir ein andres, neues Bild.

[205]
Verlangtest Du, ein Jüngling, nach der Brust
Der Mutter? Als die Liebe Dich ergriff,
Sahst Du die Braut wie Deine Schwester an?
Und als der Traum der Ehre fort Dich riß,
Verlangtest in die Windeln Du zurück?
Schmeckt Dir die Zuckerbirne, wie sie Dir,
Dem Kinde, schmeckte? Und die innre Welt
Der Regungen, der lichten Phantasei,
Des Anblicks aller Dinge, ist sie noch
Dieselbe Dir, wie sie dem Knaben war?

Ermanne Dich! Das Leben ist ein Strom
Von wechselnden Gestalten. Welle treibt
Die Welle, die sie hebet und begräbt.
Derselbe Strom, und keinen Augenblick,
An keinem Ort, in keinem Tropfen mehr
Derselbe, von der Quelle bis zum Meer.

Und solch ein Trugbild soll Dir Grundgebäu
Von Deiner Pflicht und Hoffnung, Deinem Glück
Und Unglück sein? Auf einen Schatten willst
Du stützen Dich? und einer Wahngestalt
Gedanken, Wirkung, Zweck des Lebens weihn?
Ermanne Dich! Nein, Du gehörst nicht Dir;
Dem großen, guten All gehörest Du.
Du hast von ihm empfangen und empfängst;
Du mußt ihm geben, nicht das Deine nur,
Dich selbst, Dich selbst; denn sieh, Du liegst, ein Kind,
Ein ewig Kind, an dieser Mutter Brust
Und hangst an ihrem Herzen. Abgetrennt
Von allem Lebenden, was Dich umgab
Und noch umgiebt, Dich nähret und erquickt,

Was wärest Du? Kein Ich. Ein jeder Tropf
In Deinem Lebenssaft, in Deinem Blut
Ein jedes Kügelchen, in Deinem Geist
Und Herzen jeder regende Gedank‘,
Und Fertigkeit, Gewöhnung, Schluß und That
(Ein Triebwerk, das Du übend selbst nicht kennst),

Jedwedes Wort der Lippe, jeder Zug
Des Angesichtes ist ein fremdes Gut,
Dir angeeignet, doch nur zum Gebrauch.
So, immer wechselnd, stets verändert, schleicht

[206]
Der Eigner fremden Gutes durch die Welt.
Er leget Kleider und Gewohnheit ab,
Verändert Sprache, Sitten, Meinungen,
Wie sie der Zeiten rastlos gehnder Schritt
Ihm aufdringt, wie die große Mutter ihm
In ihrem Schooße bildet Herz und Haupt.
Was ist von Deinen zehentausenden
Gedanken Dein? Das Reich der Genien,
Ein großer untheilbarer Ocean,
Als Strom und Tropfe floß er auch in Dich
Und bildete Dein Eigenstes. Was ist
Von Deinen zehen-zehentausenden
Empfindungen das Deine? Lieb‘ und Noth,
Nachahmung und Gewohnheit, Zeit und Raum,
Verdruß und Langeweile haben Dir
Es angeformt und angegossen, daß
In Deinem Leim Du neu es formen sollst
Fürs große, gute, ja fürs bessre All. –

Dahin strebt jegliche Begier, dahin
Jedweder Trieb der lebenden Natur,
Verlangen, Wunsch und Sehnen, Thätigkeit
Und Neugier und Bewunderung und Braut-
Und Mutterliebe, daß vom innern Keim
Die Knospe sich zur Blum‘ entfalt‘ und einst
Die Blum‘ in tausend Früchten wieder blüh‘.
Den großen Wandelgang des ew’gen Alls
Befördert Luft und Sonne, Nacht und Tag.
Das Ich erstirbt, damit das Ganze sei.
Was ist’s, das Du mit Deinem armen Ich
Der Nachwelt hinterlässest? Deinen Namen?
Und hieß‘ er Raphael: an Raphael’s
Gemälden selbst vergess‘ ich gern den Mann
Und ruf‘ entzückt: »Ein Engel hat’s gemalt.«

Dein Ich? Wie lange kann und wird es denn
Die Nachwelt nennen? Und am Namen liegt’s?
So nennet sie mit Dir auch Mävius
Und Bavus, Stax und Nero-Herostrat.

[207]
Nur wenn, uneingedenk des engen Ichs,
Dein Geist in allen Seelen lebt, Dein Herz
In tausend Herzen schläget, dann bist Du
Ein Ewiger, Allwirkender, ein Gott,
Und ach, wie Gott, unsichtbar-namenlos.
Persönlichkeit, die man den Werken eindrückt,
Die kleinliche, vertilgt im besten Werk
Den allgemeinen, ew’gen Genius,
Das große Leben der Unsterblichkeit.

So lasset denn im Wirken und Gemüth
Das Ich uns mildern, daß das bessre Du
Und Er und Wir und Ihr und Sie es sanft
Auslöschen und uns von der bösen Unart
Des harten Ichs unmerklich sanft befrein!
In allen Pflichten sei uns erste Pflicht
Vergessenheit sein selber! So geräth
Uns unser Werk, und süß ist jede That,
Die uns dem trägen Stolz entnimmt, uns frei
Und groß und ewig und allwirkend macht.
Verschlungen in ein weites Labyrinth
Der Strebenden, sei unser Geist ein Ton
Im Chorgesang der Schöpfung, unser Herz
Ein lebend Rad im Werke der Natur!

Wenn einst mein Genius die Fackel senkt,
So bitt‘ ich ihn vielleicht um Manches, nur
Nicht um mein Ich. Was schenkt er mir damit?
Das Kind? den Jüngling? oder gar den Greis?
Verblühet sind sie, und ich trinke froh
Die Schale Lethens. Mein Elysium
Soll kein vergangner Traum von Mißgeschick
Und kleinem krüpplichten Verdienst entweihn.

Den Göttern weih‘ ich mich, wie Decius,
Mit tiefem Dank und unermeßlichem
Vertrauen auf die reich belohnende,
Vielkeimige, verjüngende Natur.
Ich hab‘ ihr wahrlich etwas Kleineres
Zu geben nicht, als was sie selbst mir gab
Und ich von ihr erwarb, mein armes Ich.

 
 
2 
 März 
 
2017


 

Die Bergnymphe Echo


 
Musik
Helos – Titan Quest
Silberquell
 
Blickeumsonnt und vom milden Licht reiner Verehrung beflossen,
wallet dein golden belaubtes Bergeshaupt auf. Der Bewund’rung
Hauch durchwebt deines Götterhains buntwelken Garten,
trägt der Verehrung lindes Lied zu des Hochaltars weihvoller Stirn,
wahrer Anmut Silberquell.
 
Freundlicher quillt nun der Strom [1]strömt nun das Balsam
und perlet in der Verehrung Schale,
beträuft mir den Kelchrand empfangender Lippen.
→ zu Mnemosynes Geleit
Pygmalions Werkstatt

Fußnoten[+]

 
 
27 
 Mai 
 
2015


 

 
Schöner als der beachtliche Mond und sein geadeltes Licht,
Schöner als die Sterne, die berühmten Orden der Nacht,
Viel schöner als der feurige Auftritt eines Kometen
Und zu weit Schönrem berufen als jedes andre Gestirn,
weil dein und mein Leben jeden Tag an ihr hängt, ist die Sonne.
Schöne Sonne, die aufgeht, ihr Werk nicht vergessen hat
Und beendet, am schönsten im Sommer, wenn ein Tag
An den Küsten verdampft und ohne Kraft gespiegelt die Segel
Über dein Aug ziehn, bis du müde wirst und das letzte verkürzt.
Ohne die Sonne nimmt auch die Kunst wieder den Schleier,
Du erscheinst mir nicht mehr, und die See und der Sand,
Von Schatten gepeitscht, fliehen unter mein Lid.
Schönes Licht, das uns warm hält, bewahrt und wunderbar sorgt,
Dass ich wieder sehe und dass ich dich wiederseh!
Nichts Schönres unter der Sonne als unter der Sonne zu sein …
Nichts Schönres als den Stab im Wasser zu sehn und den Vogel oben,
der seinen Flug überlegt, und unten die Fische im Schwarm,
Gefärbt, geformt, in die Welt gekommen mit einer Sendung von Licht,
Und den Umkreis zu sehn, das Geviert eines Felds, das Tausendeck meines Lands
Und das Kleid, das du angetan hast. Und dein Kleid, glockig und blau!
Schönes Blau, in dem die Pfauen spazieren und sich verneigen,
Blau der Fernen, der Zonen des Glücks mit den Wettern für mein Gefühl,
Blauer Zufall am Horizont! Und meine begeisterten Augen
Weiten sich wieder und blinken und brennen sich wund.
Schöne Sonne, der vom Staub noch die größte Bewundrung gebührt,
Drum werde ich nicht wegen dem Mond und den Sternen und nicht,
Weil die Nacht mit Kometen prahlt und in mir einen Narren sucht,
Sondern deinetwegen und bald endlos und wie um nichts sonst
Klage führen über den unabwendbaren Verlust meiner Augen.

Textdichterin Ingeborg Bachmann
Lesung Ingeborg Bachmann
Bereitstellung betapicts

 
 
11 
 März 
 
2012

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Lutz Görner lädt uns zu einer literarischen Reise ein

Tausend Dank an Lutz Görner für die Einstellung auf YouTube!
Eventuelle Kommentare zum Video-Clip bitte direkt auf YouTube!

 

 
Der Blinde und der Lahme (1:21)
Christian Fürchtegott Gellert (1715 – 1769)

Der Zufall ließ einst einen Blinden
Einen Gelähmten auf der Straße finden.
Der Blinde hofft drum freudenvoll,
Dass ihn der Lahme leiten soll.

»Dir« spricht der Lahme »beizustehn?
Ich armer Mann kann zwar nicht gehn,
Doch scheints, dass du zu einer Last
Noch sehr gesunde Schultern hast.

Entschließe dich, mich fortzutragen,
So will ich dir die Wege sagen.
So wird dein starker Fuß mein Bein,
Mein helles Aug wird deines sein.«

Der Lahme hängt, mit seinen Krücken,
Sich auf des Blinden breiten Rücken.
Vereint wirkt also dieses Paar,
Was einzeln keinem möglich war.

Du hast das nicht, was andre haben,
Und andern mangeln deine Gaben?
Aus dieser Unvollkommenheit
Entspringet die Geselligkeit.

 

 
Nicht jede Besserung ist Tugend (3:15)
Christian Fürchtegott Gellert (1715 – 1769)

Nicht jede Besserung ist Tugend.
Oft ist sie nur das Werk der Zeit.
Die wilde Hitze roher Jugend
Wird mit den Jahren Sittsamkeit.
Und was Natur und Zeit getan,
Sieht unser Stolz als Besserung an.

 

 
Das Kutschpferd (4:31)
Christian Fürchtegott Gellert (1715 – 1769)

Ein edler Hengst sah einen Gaul den Pflug im Acker ziehn
Und wiehernd voller Stolz blickt er herab auf ihn.
Nun, sprach er und fing an, die Schenkel schön zu heben,
Nun, Freund, kannst du dir solches Aussehn geben
Und wirst, wie ich, bewundert in der Welt?
Schweig, rief der Gaul, und lass mich ruhig pflügen.
Denn baute nicht mein Fleiß das Feld,
Wo würdest du den Hafer kriegen,
Der deiner Schenkel Aussehn dir erhält?
Die ihr uns Niedern so verachtet,
Vornehme Müßiggänger, wisst,
Dass selbst der Stolz, mit dem ihr uns betrachtet,
Ja, euer Vorzug selbst, aus dem ihr uns verachtet,
Auf unsern Fleiß gegründet ist!
Gesetzt, du hättest wirklich bessre Sitten,
So wär der Vorzug doch nicht dein.
Denn stammtest du aus unsren Hütten,
So hättest du auch unsre Sitten,
Und was du bist, und mehr, das würden wir auch sein,
Wenn wir wie du erzogen wären.
Dich kann die Welt sehr leicht, uns aber nicht entbehren.

 

 
Der Tanzbär (6:58)
Christian Fürchtegott Gellert (1715 – 1769)

Ein Bär, der lang sein Brot sich hat ertanzen müssen,
Entfloh und kam in seine Heimat bald.
Die Freunde grüßten ihn mit brüderlichen Küssen
Und brummten freudig durch den Wald.
Und wo ein Bär den andern sah,
So hieß es: Petz ist wieder da!
Darauf erzählte der, was er in fremden Landen
Für Abenteuer ausgestanden.
Was er gesehn, gehört, getan!
Und fing auf polnisch schön zu tanzen an.

Die Bären, die ihn auf zwei Beinen sahn,
Bewunderten die Wendung seiner Glieder,
Und gleich versuchten es die Brüder,
Wie er zu tanzen und zu gehn.
Doch konnten Sie kaum aufrecht stehn,
Und mancher fiel der Länge lang darnieder.
In voller Grazie ließ sich Petz nun sehn.
Jedoch sein Tanz verdross den blöden Haufen.
»Fort«, schrien alle, »fort mit dir!
Du Narr, willst klüger sein als wir?«
Und zwangen ihn davon zu laufen.

Sei ungeschickt, und niemand wird dich hassen,
Weil dir ein jeder ähnlich ist.
Doch je geschickter du vor all den andern bist,
Je mehr nimm dich in acht, dich prahlend sehn zu lassen.
Wahr ists, man wird auf kurze Zeit
Von deinen Künsten rühmlich sprechen.
Doch trau dem Braten nicht, bald folgt der Neid
Und macht deine Geschicklichkeit
Zum unverzeihlichen Verbrechen.