| 2 Dezember 2020 | |
| DICHTUNG | Gertrud Kolmar | |
| LESUNG | Benjamin Krämer-Jenster |
Ich bin fremd.
Weil sich die Menschen nicht zu mir wagen,
Will ich mit Türmen gegürtet sein,
Die steile, steingraue Mützen tragen
In Wolken hinein.
Ihr findet den erzenen Schlüssel nicht
Der dumpfen Treppe. Sie rollt sich nach oben,
Wie platten, schuppigen Kopf erhoben
Eine Otter ins Licht.
Ach, diese Mauer morscht schon wie Felsen,
Den tausendjähriger Strom bespült;
Die Vögel mit rohen, faltigen Hälsen
Hocken, in Höhlen verwühlt.
In den Gewölben rieselnder Sand,
Kauernde Echsen mit sprenkligen Brüsten –
Ich möcht eine Forscherreise rüsten
In mein eigenes uraltes Land.
Ich kann das begrabene Ur der Chaldäer
Vielleicht entdecken noch irgendwo,
Den Götzen Dagon, das Zelt der Hebräer,
Die Posaune von Jericho.
Die jene höhnischen Wände zerblies,
Schwärzt sich in Tiefen, verwüstet, verbogen;
Einst hab ich dennoch den Atem gesogen,
Der ihre Töne stieß.
Und in Truhen, verschüttet vom Staube,
Liegen die edlen Gewänder tot,
Sterbender Glanz aus dem Flügel der Taube
Und das Stumpfe des Behemoth.
Ich kleide mich staunend. Wohl bin ich klein,
Fern ihren prunkvoll mächtigen Zeiten,
Doch um mich starren die schimmernden Breiten
Wie Schutz, und ich wachse ein.
Nun seh ich mich seltsam und kann mich nicht kennen,
Da ich vor Rom, vor Karthago schon war,
Da jäh in mir die Altäre entbrennen
Der Richterin und ihrer Schar.
Von dem verborgenen Goldgefäß
Läuft durch mein Blut ein schmerzliches Gleißen,
Und ein Lied will mit Namen mich heißen,
Die mir wieder gemäß.
Himmel rufen aus farbigen Zeichen.
Zugeschlossen ist euer Gesicht:
Die mit dem Wüstenfuchs scheu mich umstreichen,
Schauen es nicht.
Riesig zerstürzende Windsäulen wehn,
Grün wie Nephrit, rot wie Korallen,
Über die Türme. Gott läßt sie verfallen
Und noch Jahrtausende stehn.
| 27 April 2019 | |
Das ist die Sehnsucht: wohnen im Gewoge
und keine Heimat haben in der Zeit.
Und das sind Wünsche: leise Dialoge
täglicher Stunden mit der Ewigkeit.Rainer Maria Rilke [2]aus: „Das ist die Sehnsucht“
Silberklang
Was birgt
der Genien Geisterreich?
Was wirkt
der Parzen [3]Gemeint ist insbesondere die Schicksalsgöttin Klotho,
die den Lebensfaden spinnt. Fingerstreich [4]Schicksalsstreich
am sausend Webgestühl
der Schicksalsgöttin Tyche?
Was bürgt
des Zwirnes wirrer Lebensfaden?
Was hält
Apollons [5]Gott der Dichtkunst und des Gesanges Saitenspiel,
die heit’ren und oft klagen Lieder, [6]die munt’ren und auf traur’gen Lieder
mir nun auf dumpfer Leier [7]auf missgestimmter Leier
wohl bereit?
* * *
In all dem brausend Weltgewühl,
wo finde tröstend ich mich ein?
An deiner treuen Seit‘,
Gefährtin Einsamkeit,
nun wieder?
* * *
Es rauscht
im stillern Hain [8][…], trostentlaubt
auf dunklen Herzenspfaden
der zagen Zweifel Nachtesschwinge. [9]der Zweifel zagen Nachtesschwinge
Es lauscht
vergeblich Hoffen,
für und für,
dem wehen Ruf aus trauter Ferne,
der hoffnungsfroh [10]windeseil an mich erginge… [11]die lebensmatte Brust durchpfeilt
* * *
Und über mir
Selenes mondnes Haupt,
wo stumm der silbern Sichelmund
im wolken Feierkleide weilt. [12]im wolken Feierkleid verweilt
Nur ihrer Augensterne Liedchoral,
tönt lächelnd mild
mir schimmertrunken [13]tönetrunken nieder,
und träuft [14]träumt in meines Anlitz‘ Nachtesweiher
aufs dämmerschweigende Gefild.
Vom gleisen Niedergange
lichter Quelle himmlisch Lauten,
schäumt meiner flauten Wange
die flüsternd Welle
und träumt im leisen Wogenklange, [15]Wogengange
enthoben [16]erlöset / zerstoben nun der nied’ren Qual nun von nied’rer Qual.
→ Pygmalions Werkstatt
Fußnoten
| 28 Dezember 2018 | |
Gottfried Keller (1819 – 1890)
O weh mir, wehe! Meines Lebens Kreis,
Er hat sein Mittel und sein Maß verloren!
Ich bin ein wurzellos, zerknicktes Reis,
Dem Wintersturm zum leichten Spiel erkoren!
Der ich des Lebens Grundstein nicht gelegt,
Mir wäre besser, wenn ich nie geboren!
Der ich die Jugendzeit nicht zart gepflegt,
Werd nimmermehr die Zeit der Tat genießen!
Wie kann dem Baum, der keine Blüten trägt,
Dereinst die segensvolle Frucht entsprießen?
Und, da mein Quell verschüttet ist im Sand,
Kann je mein Strom frisch durch Gefilde fließen?
[…]
Gottfried Keller (1819 – 1890)
Mein Schulfreund aus den ersten Knabenjahren?
Wie weit sind auseinander wir gefahren
In unsern Schifflein auf des Lebens Wogen?
Als wir die Untersten der Klasse waren,
Wie haben wir treuherzig uns betrogen,
Erfinderisch und schwärmrisch uns belogen
Mit Abenteuern, Liebschaft und Gefahren!
Da seh ich just, beim Schimmer der Laterne,
Wie mir gebückt, zerlumpt ein Vagabund
Mit einem Häscher scheu vorübergeht –
So also wendeten sich unsre Sterne?
Und so hat es gewuchert, unser Pfund?
Du bist ein Schelm geworden – ich Poet!
Gottfried Keller (1819 – 1890)
Und tölpischer Gesell.
Hab gegen feine Mucker
Ein widerborstig Fell.
Ich bin als wilder Zecher
Auf einen Trunk erpicht,
Doch füllet meinen Becher
Ein edler Tropfen nicht.
Ich bin ein guter Streiter
Mit ungewaschnem Maul,
Ich bin ein guter Reiter,
Wenn auch auf magrem Gaul!
Und ob mein Schild auch rostig ist,
Und ob mein Schwert auch schartig ist,
Ich schlage drein nicht faul!
Gottfried Keller (1819 – 1890)
In Staub und trocknem Schlamme
Verborgen, wie die Flamme
In leichter Asche tut.
Er findet, wo er geht,
Die Leere dürftger Zeiten,
So kann er schamlos schreiten.
Nun wird er ein Prophet.
Auf einen Kehricht stellt
Er seine Schelmenfüße
Und zischelt seine Grüße
In die verblüffte Welt.
Gehüllt in Niedertracht
Gleichwie in einer Wolke,
Ein Lügner vor dem Volke,
Ragt bald er groß an Macht.
Erst log allein der Hund,
Nun lügen ihrer tausend.
Und wie ein Sturm erbrausend,
So wuchert jetzt sein Pfund.
Hoch schießt empor die Saat!
Verwandelt sind die Lande.
Die Menge lebt in Schande
Und lacht der Schofeltat!
Wenn einstmals diese Not
Lang wie ein Eis gebrochen,
Dann wird davon gesprochen,
Wie von dem schwarzen Tod.
Und einen Strohmann baun
Die Kinder auf der Heide,
Zu brennen Lust aus Leide
Und Licht aus altem Graun.
Gottfried Keller (1819 – 1890)
»Geschwind und lasst uns frein!
Wir können keinen einzigen Tag
Mehr ohne einander sein!«
Doch als ein Jährlein kaum verstrich,
Da liefen sie herbei und schrien:
»Herr Pfarrer, trennt und scheidet uns,
Lasst keine Minute fliehn!«
Das Pfäfflein runzelte sich und sprach:
»Macht euch die Scham nicht rot?
Wir haben es alle drei gelobt,
Euch trenne nur der Tod!«
»Rot macht die Scham, doch Reue blass!
Herr Pfarrer, gebt uns frei!«
Der Mann bot einen Taler dar,
Die Frau der Taler zwei.
Da tat das Pfäffel zwischen sie
Ein Kätzlein, heil und ganz.
Der Mann, der hielt es bei dem Kopf,
Die Frau hielt es am Schwanz.
Mit seinem Küchenmesser schnitt
Der Pfaff die Katz entzwei:
»Es trennt, es trennt, es trennt der Tod!«
Da waren sie wieder frei.
| 30 August 2018 | |
| DICHTUNG | Friedrich Hölderlin | |
| LESUNG | Christian Brückner | |
| BEREITSTELLUNG | LYRIK & MUSIK |
Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See,
Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.
Weh mir, wo nehm ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde ?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.
| 3 November 2017 | |
| DICHTUNG | Georg Lysthenius | |
| LESUNG | Jürgen Fritsche |
Ihr ungestimmten Flöten
Verhungerter Poeten,
Pfeift für ein Maß verdorbnes Bier
Der Welt verwegne Possen für!
Geht ungefähr dem Dorf ein Richter ab,
Wie foltert ihr den Kopf durch tiefes Sinnen
Und seid bemüht, bei dessen Grab
Durch einen Reim ein Taglohn zu gewinnen.
Für kleines Geld verkauft man große Lügen,
Die Stein und Eisen überwiegen.
Schlaf aus, du träumender Poet!
Suchst du die Toten aufzuwecken,
So mußt du selbst nach Geist und Leben schmecken.
| 29 Oktober 2017 | |
Charles Baudelaire (1821 – 1867)
Kopf und Herz am rechten Fleck,
Wirf dies Teufelsbuch hinweg,
Das so toll und so voll Leiden.
Schwörst du nicht mit Satans Eiden,
Bist ein Pfaffe schlau und keck,
Dann glaubst du mich krank. Wirfs weg!
Wir verstehn uns nicht, wir beiden.
Doch wenn ohne sich zu trüben
In die Höll traut sich dein Blick,
Lies mich dann, um mich zu lieben.
Herz voll Leid und Missgeschick,
Das voll Sehnsucht Eden sucht,
Weine! – Oder sei verflucht!
Charles Baudelaire (1821 – 1867)
Und hatte sich geschmückt mit klingendem Geschmeide,
Des überreiche Pracht ihr sieghaft Aussehn lieh,
Maurischen Sklaven gleich in deren Feierkleide.
Wenn hell und spöttisch klirrt im Tanze Gold und Stein,
Und alles flimmernd sprüht von leuchtenden Juwelen,
Ergreift Verzückung mich, und bis zu Wut und Pein
Lieb ich die Dinge, drin sich Klang und Glanz vermählen.
Nun lag sie da, umglüht von zärtlichem Begehr,
Und lächelte voll Lust von ihres Diwans Kissen
Auf meine Liebe, die, anschwellend wie das Meer,
Aus nächtigen Tiefen stieg, zum Ufer hingerissen.
Ihr Blick, er fesselt mich wie ein gezähmtes Tier,
Versonnen, träumerisch bewegt sie ihre Glieder,
Und Kindlichkeit, vermischt mit Geilheit und mit Gier,
Goss neuen Reiz auf dieses Wechselspiel hernieder.
All ihre Herrlichkeit, die Schenkel, Arm und Bein,
Glänzend von Öl, sich biegend wie ein Schwan in Wellen,
Sah mein entzückter Blick, mein Auge klar und rein.
Ihr Bauch, die Brüste ließen meinen Weinstock quellen.
Ich glaubt vereint zu sehen, was ich noch nie geschaut,
Der Frauen Hüften und die Schultern eines Knaben.
Den kräftigen Gliedern und der braunen Haut
Duftige Salben ihre fremden Reize gaben!
Das Licht glomm langsam aus, ergab sich still dem Tod.
Nur vom Kamin der Schein flackerte hin und wieder.
Und immer, wenn die Glut aufseufzte, floss es rot,
Ein blutiger Strom, auf ambrafarbne Glieder nieder!
Charles Baudelaire (1821 – 1867)
Wie sich die Schlange dreht auf heißem Kohlenbecken.
Und übers Mieder quellend fest die Brüste eingezwängt,
Sprach diese Worte sie, von Moschus ganz durchtränkt:
»Mein Mund ist rot und feucht. Auf meines Bettes Kissen
Bist du nicht mehr geplagt vom lästigen Gewissen.
Die Tränen trockne ich auf meines Busens Pracht.
Mach Alte fröhlich, wie man Kinder lachen macht.
Dem, der mich ohne Hülle schaut, nackt und voll Wonnen,
Ersetze ich den Mond und Himmelswelt und Sonnen.
Ich bin, Geliebter, so geübt in Wollustglut,
Dass tödlich dir wird meiner Liebe Wut.«
Nachdem sie aus dem Leib mir alles Blut gesogen,
Dreht ich mich matt zu ihr, von Liebe hingezogen,
Um sie zu küssen. Doch mein Aug hat nichts entdeckt
Als einen leeren Schlauch, besudelt und befleckt!
Ich schloss die Augen schnell, gepackt von kaltem Grauen.
Ich öffnete sie langsam dann und musste schauen
Nun jenen Gliederbalg, der neben mir da ruht,
Der ausgesaugt mir Leben, Kraft und Blut.
Ein zitterndes Skelett, verwirrter Knochen Trümmer,
Daraus ein Stöhnen klang wie Wetterhahns Gewimmer,
Wie eines Schildes Schrei, das in den Angeln kracht,
Wenn es der Windstoss dreht in stürmischer Winternacht.



























