Lyrik ~ Klinge
    Versuch einer Dichtung            

7 
 September 
 
2016


 

DICHTUNG Rainer Maria Rilke
LESUNG Oskar Werner
MUSIK Peter Tschaikowsky
BEREITSTELLUNG LYRIK & MUSIK



Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren lass die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten, voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin, und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

 
 
9 
 Juli 
 
2016

abgelegt in
Die Edda | Mythologie

 

Quelle: Youtube

Ich bin die Völva.
Ich durchschaue die Dinge.
Ich sehe, wie alles beginnt – und wie es endet.
Inmitten allem sehe ich die Esche Yggdrasil.
Alle Dinge finden sich in ihr,
sie verbergen sich zwischen des Baumes Zweigen und Blättern.

Doch früher war nur Dunkelheit … und Dunkelheit … und das Nichts. Es gab keine Erde, keinen Himmel, keine grünen Täler, keine warmen Winde und keine kühlen Wellen. Aber die Dunkelheit begann sich zu bewegen. Sie öffnete sich mitten im Nichts und wurde zum bodenlosen Abgrund Ginnungagap.
Vom kalten Niflheim, das mit Eis und Schnee bedeckt war, flossen kalte Bäche in den Abgrund, wo sie zu schweren, großen Eisblöcken gefroren. Und Muspelheim, die flammende Welt des Lichts, warf seinen Strahl auf alles, was da war.
Blitze und Funken aus Muspelheim flogen in die Mitte der Welt und die Luft wurde warm und ruhig. Aus dem tropfenden Wasser wurde ein lebendiges Wesen geboren. Es hieß Ymir.
Er war der erste Riese. Zu Beginn schlief er. Unter seinen Achseln wurde eine Riesen-Frau geboren … und ein Riesen-Mann. Und seine beiden Füße zeugten ein Kind miteinander. So wurde Ymir Vater der Riesen. Sie waren die ersten, und bekamen viele Kinder.

Die Wärme ließ mehr Eis schmelzen, und es erwuchs die Kuh Audhumbla. Aus ihrem Euter flossen vier Flüsse von Milch, von denen Ymir und seine Riesen leben konnten. Audhumbla leckte Salz und Feuchtigkeit vom Eis und ihre warme Zunge ließ das Eis schmelzen.
Da tauchte ein leuchtendes Wesen auf. Es war Burr, der auf diese Weise geboren wurde. Und Burr hatte einen Sohn. Er heiratete eine Tochter der Riesen. Zusammen bekamen sie drei Söhne: die Götter Odin, Vili und Ve.
Die drei Götter wuchsen und wurden stärker und stärker. Sie wollten selbst die Welt beherrschen, also beschlossen sie, Ymir zu töten. Sie zerschmetterten seinen Rücken mit schweren Eisblöcken. Das Blut floss und füllte den großen Abgrund auf und fast alle Riesen ertranken. Nur zwei retteten sich auf ein Boot, das sie sich aus Ymirs abgerissener Hand gemacht hatten. Auf diese Weise gab es weiterhin Riesen auf der Welt und es gab immer Streit zwischen ihnen und den Göttern. Daher lauert die Angst vor Rache hinter allem Handeln.
Die Götter hoben Ymirs toten Körper und warfen ihn in den Ginnungagap, wo er im Blut trieb. Auf diese Weise schufen sie die Erde. Diejenigen Riesen, die übrig waren, ließen sich am Rande der Erde nieder, an einer Stelle, die sie Jötunheim nannten – „Heimat der Riesen“. Und die Riesen wurden bald mehr und mehr.
Um die Riesen fernzuhalten, nahmen die Götter Ymirs Augenbrauen und bauten daraus eine Festung. Diese nannten sie Midgard – „Mittelhof“. Auf diese Weise wollten sie die fruchtbare Mitte der Welt beschützen.
In der Festung pflanzten sie große Bäume, es waren die Haare von Ymirs Haupt. Sie warfen seine Knochen umher. Sie wurden zu großen Bergen. So stark waren sie!
Aber weit weg von Midgard saß eine Riesen-Frau in den Höhlen des Eisenwaldes und sann nach Rache. Sie gebar viele Riesen, die alle Gestalt von Wölfen hatten.
Die Götter nahmen Ymirs Schädel als Himmel und setzten ihn über die Erde. Sie ergriffen die Funken, die aus Muspelheim geflogen kamen und warfen sie an den Himmel. Die meisten blieben hängen und leuchteten als dunkle Zeichen. Aber einige Funken waren so groß, dass sie ihren eigenen Weg nahmen.
Ymirs Hirn bildete sich zu schweren Wolken und tauchte die Erde in eine ungemütliche Dunkelheit. Um Licht zu schaffen fingen Odin und seine zwei Brüder zwei der großen Funken aus Muspelheim. Sie sandten sie an den Himmel, jeden in seinem eigenen Wagen und gaben dem Licht und der Dunkelheit ihre Namen. Tag und Nacht, Morgen und Mittag, Abend und Dämmerung.
Die Sonne und der Mond wurden von den Wolfskindern der Riesen-Frau verfolgt, die sie eines Tages verschlingen würden. Deshalb liefen sie so hastig über den Himmel. Dies ließ Furchtbares erahnen.

Als die warmen Strahlen der Sonne auf den Sand und die Erde fielen, begann das erste Gras zu wachsen. Die Götter hatten ihren eigenen himmlischen Wohnort, aber sie kamen oft nach Midgard zu Besuch. Eines Tages, als sie den Strand entlang gingen, fanden sie zwei Baumstämme am Ufer. Sie bewunderten ihre Form und beschlossen, den Menschen zu schaffen. Odin strich über die Stämme und hauchte ihnen Geist ein. Vili formte ihre Gestalt und gab ihnen die Fähigkeit, zu denken. Ve verlieh ihnen die Schönheit und die Gabe, ihre Sinne zu gebrauchen. Den Mann nannten sie Ask und die Frau nannten sie Embla. Sie bezogen Midgard, wo die Götter sie beschützten. Von diesen beiden ihnen stammt das gesamte Menschengeschlecht ab.
Die Götter bauten eine Brücke von ihrer himmlischen Stätte nach Midgard. Sie nannten sie Bifröst. Sie war ein mächtiger Regenbogen. Es war das schönste Bauwerk, das die Götter die Menschen sehen ließen.

Doch in der Schöpfung liegt auch der Anfang vom Ende aller Dinge und eines Tages wird Ragnarök die Welt niederreißen.

 
 
8 
 Juni 
 
2016

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DICHTUNG Rainer Maria Rilke
LESUNG Will Quadflieg
BEREITSTELLUNG LYRIK & MUSIK



Ich möchte einer werden so wie die,
die durch die Nacht mit wilden Pferden fahren,
mit Fackeln, die gleich aufgegangenen Haaren
in ihres Jagens großem Winde wehn.
Vorn möcht’ ich stehen wie in einem Kahne,
groß und wie eine Fahne aufgerollt.
Dunkel, aber mit einem Helm von Gold,
der unruhig glänzt. Und hinter mir gereiht
zehn Männer aus derselben Dunkelheit
mit Helmen, die wie meiner unstet sind,
bald klar wie Glas, bald dunkel, alt und blind.
Und einer steht bei mir und bläst uns Raum
mit der Trompete, welche blitzt und schreit,
und bläst uns eine schwarze Einsamkeit,
durch die wir rasen wie ein rascher Traum:
die Häuser fallen hinter uns ins Knie,
die Gassen biegen sich uns schief entgegen,
die Plätze weichen aus: wir fassen sie,
und unsre Rosse rauschen wie ein Regen.

Winter 1902/03, Paris