Lyrik ~ Klinge
    Versuch einer Dichtung            

6 
 Oktober 
 
2012


 

DICHTUNG Erich Kästner
LESUNG Dieter Mann
BEREITSTELLUNG wortlover


 

Ein kleiner Junge lief durch die Straßen
und hielt eine Mark in der heißen Hand.
Es war schon spät und die Kaufleute maßen
mit Seitenblicken die Uhr an der Wand.

Er hatte es eilig, er hüpfte und summte:
“Ein halbes Brot und ein Viertelpfund Speck.”
Das klang wie ein Lied. Bis er plötzlich verstummte.
Er tat die Hand auf. Das Geld war weg.

Da blieb er stehen und stand im Dunkeln.
In den Ladenfenstern erlosch das Licht.
Es sieht zwar gut aus, wenn die Sterne funkeln.
Doch zum Suchen von Geld reicht das Funkeln nicht.

Als wolle er immer stehen bleiben,
stand er. Und war, wie noch nie, allein.
Die Rolläden klapperten über die Scheiben.
Und die Laternen nickten ein.

Er öffnete immer wieder die Hände
und drehte sie langsam hin und her.
Dann war die Hoffnung endlich zu Ende.
Er öffnete seine Fäuste nicht mehr…

Der Vater wollte zu essen haben.
Die Mutter hatte ein müdes Gesicht.
Sie saßen und warteten auf den Knaben.
Der stand im Hof. Sie wußten es nicht.

Der Mutter wurde allmählich bange.
Sie ging ihn suchen. Bis sie ihn fand.
Er lehnte still an der Teppichstange
und kehrte das kleine Gesicht zur Wand.

Sie fragte erschrocken, wo er denn bliebe.
Da brach er in lautes Weinen aus.
Sein Schmerz war größer als ihre Liebe.
Und beide traten traurig ins Haus.

 
 
30 
 Juni 
 
2012

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DICHTUNG Andreas Gryphius
LESUNG Ritter von Schönhering
BEREITSTELLUNG Ritter von Schönhering


 

Mir ist, ich weiß nicht wie, ich seufze für und für.
Ich weine Tag und Nacht; ich sitz’ in tausend Schmerzen;
Und tausend fürcht’ ich noch; die Kraft in meinem Herzen
Verschwindt, der Geist verschmacht’, die Hände sinken mir.
Die Wangen werden bleich, der muntern Augen Zier
Vergeht gleich als der Schein der schon verbrannten Kerzen.
Die Seele wird bestürmt, gleich wie die See im Märtzen.
Was ist dies Leben doch, was sind wir, ich und ihr?

Was bilden wir uns ein, was wünschen wir zu haben?
Itzt sind wir hoch und groß, und morgen schon vergraben;
Itzt Blumen, morgen Kot. Wir sind ein Wind, ein Schaum,

Ein Nebel und ein Bach, ein Reif, ein Tau, ein Schatten;
Itzt was und morgen nichts. Und was sind unsre Taten
Als ein mit herber Angst durchmischter Traum.

 
 
28 
 Juni 
 
2012


 

DICHTUNG Gottfried Benn
LESUNG Gottfried Benn



Sieh die Sterne, die Faenge
Lichts und Himmel und Meer,
welche Hirtengesaenge,
daemmernde treiben sie her,
du auch die Stimmen gerufen
und deinen Kreis durchdacht,
folge die schweigenden Stufen
abwaerts dem Boten der Nacht.

Wenn du die Mythen und Worte
entleert hast, sollst du gehn,
eine neue Goetterkohorte
wirst du nicht mehr sehen,
nicht ihre Euphratthrone,
nicht ihre Schrift und Wand –
giesse, Myrmidone,
den dunklen Wein ins Land.

Wie dann die Stunden auch hiessen,
Qual und Traenen des Seins,
alles blueht im Verfliessen
dieses naechtigen Weins,
schweigend stroemt die Aeone,
kaum noch von Ufern ein Stueck –
gib nun dem Boten die Krone,
Traum und Goetter zurueck.