Lyrik ~ Klinge
    Versuch einer Dichtung            

12 
 November 
 
2016

abgelegt in
Aurel, Mark | Die Stoa | Philosophie
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Aus den “Selbstbetrachtungen
des Römischen Kaisers
Mark Aurel

  • Tue nicht, als wenn du tausende von Jahren zu leben hättest, der Tod schwebt über deinem Haupte!
    Solange du noch lebst, solange du noch kannst, sei ein rechtschaffender Mensch!
  • Die Menschen sind füreinander da. Also belehre oder dulde sie!
  • Lebe weit entfernt vom gewöhnlichen Luxus der Großen!
  • Alle Körper nehmen durch das Weltall wie auf einem Strom ihren Lauf und sind wie die Glieder unseres Leibes untereinander so mit jenem Ganzen verbunden und zusammenwirkend.
  • Viele große Denker hat schon der Zeitenlauf verschlungen.
    Dieser Gedanke sei dir beim Anblick jedes Menschen und jedes Gegenstandes gegenwärtig.
    Welch kleines Teilchen der unendlichen und unermesslichen Zeit ist jedem zugemessen und wie plötzlich wird es wieder von der Ewigkeit verschlungen?
    Was für ein winziges Teilchen ist der Mensch im Verhältnis zum Weltganzen?
    Welch kleines Teilchen von der ganzen Weltseele?
    Wie klein ist endlich das Erdenklümpchen, auf dem du umherkriechst?
    Dies alles bedenke und halte dann nichts für groß als das: Zu tun, was deine Natur dich leitet und zu leiden wie die Allnatur es mit sich bringt!
  • Die Urkraft des Weltganzen ist wie ein gewaltiger Strom, der alles mit sich fortreißt.
    Wie unbedeutend sind selbst diejenigen Staatsmänner, die die Geschäfte nach den Regeln der Weltweisheit zu lenken wähnen.
  • Oh, Eitelkeit, was willst du?
    Tue doch, was gerade jetzt die Natur von dir fordert!
    Wirke, solange du kannst und blicke dich nicht um, ob’s auch einer erfahren wird.
  • Die Philosophie lehrt mich Einfachheit und Bescheidenheit.
    Fort mit vornehm tuender Aufgeblasenheit!
  • Sei zufrieden, wenn es auch nur ein klein wenig vorwärts geht und halte auch einen solchen kleinen Fortschritt nicht für unbedeutend!
  • Die Allnatur bildet aus der körperlichen Gesamtmasse wie der Künstler aus Wachs ein Pferd, bald schmilzt sie es wieder ein und verwendet den selben Stoff mit zur Hervorbringung eines Baumes, dann eines Kindes und wieder eines anderen Wesens.
    Jedes der selben hat jedoch nur auf kurze Zeit Bestand.
  • Die Natur steht niemals gegen die Kunst zurück. Vielmehr sind die Künste Nachahmerinnen der Natur und wenn dies so ist, dürfte die vollkommenste und alles andere umfassende Natur der künstlerischen Geschicklichkeit nicht nachstehen.
    Alle Künste aber verfertigen das Unvollkommene und des Vollkommenen willen. So verfährt auch die Allnatur.
  • Alles ist verwandt und miteinander verbunden.
    Alles Dinge, die irgend etwas Gemeinschaftliches haben, streben zur Vereinigung hin:
    Was von der Erde ist, neigt sich zur Erde.
    Das Feuchte und gleichermaßen alles Luftige fließt zusammen, sodass es der Gewalt bedarf, um solche Stoffe auseinander zu halten.
    Das Feuer zwar hat seinen Zug nach oben, doch ist es zugleich geneigt, mit jedem hier befindlichem Feuer sich zu entzünden, sodass alle Stoffe, die nur einigermaßen trocken sind, leicht in Brand geraten.
 
 
18 
 Juni 
 
2016

abgelegt in
Gedankenschau

 

Ich liebe die Frauen auf eine Art, die sie nicht verstehen und wohl nie verstehen werden.

Ich liebe Frauen nicht im herkömmlichen Sinne, sondern im be-sonderen Sinne, nicht unter körperlich-motiviertem, sondern unter geistig-ästhetischem Aspekt, als Gestaltungsprinzip, das “den schönen Gedanken der Schöpfung noch einmal denkt” (Klopstock).


Zürcher See
Aufnahme vom 24.04.2006
 



Schön ist, Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht
Auf die Fluren verstreut, schöner ein froh Gesicht,
Das den großen Gedanken
Deiner Schöpfung noch einmal denkt.

Komm, und lehre mein Lied jugendlich heiter seyn,
Süße Freude, wie du! gleich dem beseelteren
Schnellen Jauchzen des Jünglings,
Sanft, der fühlenden Fanny gleich.

Jetz empfing uns die Au in die beschattenden
kühlen Arme des Walds, welcher die Insel krönt;
Da, da kamest du, Freude!
Volles Maßes auf uns herab!

Göttin Freude! du selbst! Dich, wir empfanden Dich!
Ja, du warest es selbst, Schwester der Menschlichkeit,
Deiner Unschuld Gespielin,
die sich über uns ganz ergoß.

Süß ist, fröhlicher Lenz, deiner Begeistrung Hauch,
Wenn die Flur dich gebiert, wenn sich dein Odem sanft
in der Jünglinge Herzen,
und die Herzen der Mädchen gießt.

Ach, du machst das Gefühl siegend, es steigt durch dich
jede blühende Brust schöner, und bebender,
lauter redet der Liebe
nun entzauberter Mund durch dich!

 
 
8 
 Oktober 
 
2012

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DICHTUNG Paul Celan
LESUNG Paul Celan
BEREITSTELLUNG wortlover


 

Engführung

*

VERBRACHT ins
Gelände
mit der untrüglichen Spur:

Gras, auseinandergeschrieben. Die Steine, weiß,
mit den Schatten der Halme:
Lies nicht mehr — schau!
Schau nicht mehr — geh!

Geh, deine Stunde
hat keine Schwestern, du bist —
bist zuhause. Ein Rad, langsam,
rollt aus sich selber, die Speichen
klettern,
klettern auf schwärzlichem Feld, die Nacht
braucht keine Sterne, nirgends
fragt es nach dir.

* Nirgends fragt es nach dir —

Der Ort, wo sie lagen, er hat
einen Namen — er hat
keinen. Sie lagen nicht dort. Etwas
lag zwischen ihnen. Sie
sahn nicht hindurch.

Sahn nicht, nein,
redeten von
Worten. Keines
erwachte, der
Schlaf
kam über sie.

* Kam, kam. Nirgends fragt es —

Ich bins, ich,
ich lag zwischen euch, ich war
offen, war
hörbar, ich tickte euch zu, euer Atem
gehorchte, ich
bin es noch immer, ihr
schlaft ja.

* Bin es noch immer —

Jahre.
Jahre, Jahre, ein Finger
tastet hinab und hinan, tastet
umher:
Nahtstellen, fühlbar, hier
klafft es weit auseinander, hier
wuchs es wieder zusammen – wer
deckte es zu?

* Deckte es zu — wer?

Kam, kam.
Kam ein Wort, kam,
kam durch die Nacht,
wollt leuchten, wollt leuchten.

Asche.
Asche, Asche.
Nacht.
Nacht-und-Nacht. — Zum
Aug geh, zum feuchten.

* Zum Aug geh, zum feuchten —

Orkane.
Orkane, von je,
Partikelgestöber, das andre,
du
weißts ja, wir
lasens im Buche, war
Meinung.

War, war
Meinung. Wie
faßten wir uns
an — an mit
diesen
Händen?

Es stand auch geschrieben, daß.
Wo? Wir
taten ein Schweigen darüber,
giftgestillt, groß,
ein
grünes
Schweigen, ein Kelchblatt, es
hing ein Gedanke an Pflanzliches dran —

grün, ja
hing, ja
unter hämischem
Himmel.

An, ja,
Pflanzliches.

Ja.
Orkane, Par-
tikelgestöber, es blieb
Zeit, blieb,
es beim Stein zu versuchen — er
war gastlich, er
fiel nicht ins Wort. Wie
gut wir es hatten:

Körnig,
körnig und faserig. Stengelig,
dicht;
traubig und strahlig; nierig,
plattig und
klumpig; locker, ver-
ästelt –: er, es
fiel nicht ins Wort, es
sprach,
sprach gerne zu trockenen Augen, eh es sie schloß.

Sprach, sprach.
War, war.

Wir
ließen nicht locker, standen
inmitten, ein
Porenbau, und
es kam.

Kam auf uns zu, kam
hindurch, flickte
unsichtbar, flickte
an der letzten Membran,
und
die Welt, ein Tausendkristall,
schoß an, schoß an.

* Schoß an, schoß an. Dann —

Nächte, entmischt. Kreise,
grün oder blau, rote
Quadrate: die
Welt setzt ihr Innerstes ein
im Spiel mit den neuen
Stunden. — Kreise,

rot oder schwarz, helle
Quadrate, kein
Flugschatten,
kein
Meßtisch, keine
Rauchseele steigt und spielt mit.

* Steigt und spielt mit –

In der Eulenflucht, beim
versteinerten Aussatz,
bei
unsern geflohenen Händen, in
der jüngsten Verwerfung,
überm
Kugelfang an
der verschütteten Mauer:

sichtbar, aufs
neue: die
Rillen, die

Chöre, damals, die
Psalmen. Ho, ho-
sianna.

Also
stehen noch Tempel. Ein
Stern
hat wohl noch Licht.
Nichts,
nichts ist verloren.

Ho-
sianna.

In der Eulenflucht, hier,
die Gespräche, taggrau,
der Grundwasserspuren.

* (– — taggrau, der Grundwasserspuren —

Verbracht
ins Gelände
mit
der untrüglichen
Spur:

Gras.
Gras,
auseinandergeschrieben.)

 

Textdichter Paul Celan
Lesung Paul Celan
Bereitstellung wortlover